Text Möckel

Birgit Möckel . 2015

Nicht von Pappe.

Zur Sprache des Materials in einer aktuellen Werkreihe von Andreas Theurer.

Ja, sie sind aus Pappe, diese neuen Skulpturen von Andreas Theurer. Konsequent aus diesem Material gedacht und entwickelt, zeigen sie die originäre Handschrift eines Bildhauers, der mit bewusst gewählter Stofflichkeit, Oberflächenreizen und Farbnuancen größtmögliche Wirkung der Formen im Raum erreicht und nicht zuletzt gerade durch das Material weitreichende inhaltliche Konnotationen weckt. Sie täuschen nicht, diese hochaufragenden geschlossenen Körperformen. Sie spielen vielmehr mit Licht und Schatten, mit der Illusion von Fläche und Raum und so dichten wie transparenten Strukturen. In der fragmentierten Außenhaut offenbart sich eine gleichsam archäologische Topographie oder Seelenlandschaft – als umfassende Projektionsfläche einer weithin sichtbaren und spürbaren brüchigen Realität.

Der Bildhauer Andreas Theurer weiß um die spezifische und durchaus auch kulturell geprägte (Aussage)kraft von Material, sei es Holz, Stein, Bronze oder – wie hier – schlichte Pappe, Sand und Farbe. Mit dem aufgrund seiner mehrschichtigen Struktur äußerst stabilen Werkstoff entwickelt er irritierende Körper und Räume, deren perspektivische Wechsel und Ansichten immer neu unsere eingefahrenen codierten Sehweisen ins Wanken bringen. Präzise aufgefächert, mit harten, teils holzschnittartigen Kanten und Konturen, öffnen und schließen sich diese komplex strukturierten, ganz in sich ruhenden Statuen und architektonischen Körper, um – peu à peu im Umschreiten – mit unerwarteten Perspektiven und neuen Deutungsmöglichkeiten zu überraschen. Passagen aus kontrastierenden malerischen, graphischen, hellen und dunklen Partien folgen einem eigenen Rhythmus und inneren Reiz, der zwischen den Gesetzmäßigkeiten von Material und Form und so assoziativen wie naturnahen Prozessen oszilliert. Im fließenden Miteinander der einzelnen Flächen entsteht die Lebendigkeit eines facettenreichen Materials, das jedes Teilstück eines umfassenden Ganzen spannungsreich einbindet, Hülle und Kern umfängt und aus der Nähe Ferne zu evozieren weiß – oder vice versa.

Was verbirgt sich hinter der Fassade dieser Archetypen, die sich mit einer dünn lasierten rostrauen Tarnung wappnen, die in der Nahsicht umso deutlicher die Verletzbarkeit der Außenhaut preisgibt. Ob Mimikry oder Camouflage – die Schutzmechanismen der Natur und des Menschen funktionieren bestens aus der Distanz, um im direkten Gegenüber eine bühnenhafte Illusion zu offenbaren, die eigenen Wirkmechanismen folgt. Ob aus der Evolution geboren oder zu militärischen Zwecken genutzt, jedwede variantenreiche Tarnung hilft zu überleben und täuscht den Feind oder den arglosen Betrachter, der sich den Figuren und Raumskulpturen des Bildhauers nähert. Wie Zeugen fremder Kulturen erzählt ihre (Zurück)-Haltung und reduzierte klare Form von einer fernen Zivilisation, während das Material in seiner Einfachheit und alltäglichen dinglichen Präsenz sie ganz in der Gegenwart verankert.

Der Dialog von sichtbarer Dekonstruktion der Oberfläche und warm schimmernden gleichsam festigenden Lasuren und dem damit verbundenen Licht- und Schattenspiel rückt die Idee eines Materials vor Augen, das auf Dauer angelegt ist. Doch was bedeutet jener Gedanke an Ewigkeit angesichts einer Welt mit immer neuen Krisenherden, zerstörerischen Kriegen, dem nicht endenden Verlust von Menschenleben und kulturellem Gedächtnis? Was zeigen menschenleere Architekturfragmente, die Andreas Theurer möglichst flach an die Wand schmiegen lässt, um von dort eine größtmögliche illusionäre Raumwirkung und Sogkraft zu entfalten – insbesondere im Dialog mit seinen gleichsam aus der Zeit heraus gelösten und doch auf das engste mit der Gegenwart verbundenen Figuren?

Mit leichter Hand haben sich diese Protagonisten aus dem Schatten ihrer massiven Pendants gelöst und ihren Platz im Oeuvre erobert. Gleichsam herausgeschält aus dem innersten Kern einer zutiefst humanistisch geprägten künstlerischen Idee bilden sie jetzt eine neue Werkgruppe, die eigene Schatten wirft: zuweilen ganz real aus schwarzem Sand. Was ist Wirklichkeit? Was ist Vorstellungskraft? Neben dem Material Stein und dem hell und dunkel gefassten Holz seines bisherigen Oeuvres, ist es vielleicht gerade die Synthese aus Anpassungsfähigkeit und mit leichter Hand zu transformierenden Werkstoffes Pappe, die sich Andreas Theurer zu eigen macht, um über die tradierte geometrische Perspektive und Modellhaftigkeit hinaus weitere authentische Wahrnehmungsräume zu schaffen, die vom Innersten des Menschen und einer umfassenden Seelenlandschaft erzählen – als zeitliche Spur und brüchige Realität.

Dr. Birgit Möckel
(* 1958 in Bruchsal)
ist Kunsthistorikerin in Berlin. Sie ist als Autorin, Kuratorin und Lehrbeauftragte tätig sowie Vorsitzende des Kunstverein KunstHaus Potsdam e.V.