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Antje Lechleiter . 2018

zur Eröffnung der Ausstellung „Positionen im Raum“ in der städtischen Galerie im Alten Rathaus in Lahr

Sehr geehrte Damen und Herren,
„Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen. (…) Jede Skulptur, die vom Raum ausgeht als existiere er, ist falsch, es gibt nur die Illusion des Raumes“, hält Alberto Giacometti 1949 in seinen Notizen fest. Diesen Satz würde Andreas Theurer, der heute mit seinen Werken in der Städtischen Galerie zu Gast ist, zu 100 Prozent unterschreiben. Denn durch ihre Vielzahl an Perspektiven, ihre Öffnungen, Konturlinien und unruhigen Oberflächen kreieren seine Werke einen eigenen plastischen Raum und sie verändern damit auch den Ort, an dem sie sich befinden.

Sich selbst sieht Theurer als einen klassisch arbeitenden Bildhauer, doch durch die Eigenwilligkeit seiner Raumperspektiven, durch die Infragestellung von Raum und Zeit hat er zu einer eigenständigen und sofort wiedererkennbaren Formensprache gefunden.

Ein Meister des Körperlichen und der Leiblichkeit war einst sein Lehrer an der Kunstakademie in Stuttgart und Theurer war von den Skulpturen des Österreichers Alfred Hrdlickas begeistert. Doch dieser erkannte schnell die eigentliche Bestimmung seines Schülers und prophezeite ihm: „In Ihnen steckt ein Abstrakter“. Er hatte Recht und im Zuge seiner weiteren Entwicklung machte Andreas Theurer die Veränderung des Raumes durch einen permanenten Wechsel der Perspektive (im doppeldeutigen Sinne dieses Wortes) zu seinem zentralen bildnerischen Thema. Inzwischen spricht der Künstler konsequenterweise von seinen Werken als „Raum-Skulpturen“. Dieser Begriff ist sowohl für seine geometrisch-abstrakten als auch für die reduziert-figürlichen Arbeiten gültig. Denn ob seine architektonischen Körper oder die in sich ruhenden Statuen groß oder klein, schwer oder leicht sind, immer schaffen sie sich einen eigenen Raum und machen diesen durch ihr Da-sein erfahrbar. Theurer arbeitet bevorzugt mit reduzierten geometrischen, oftmals sehr architektonischen Formen, wir finden Würfel, Tore und geöffnete Räume, die wir mit den Augen betreten können. Damit ruht unsere Aufmerksamkeit im gleichen Maße auf dem Gestalteten wie auf dem Ungestalteten. Dazu passt, dass seine Arbeiten über klare Konturen verfügen und ihre Kanten wie Linien den Raum bezeichnen. Wir folgen ihnen in der Betrachtung und geraten dabei selbst in Bewegung, umkreisen die Skulptur, werden von immer neuen An- und Durchblicken, Auf- und Untersichten, vom lebendigen Spiel mit Licht und Schatten überrascht. Dieses tektonische Gerüst fügt sich weniger aus rechten als aus stumpfen und spitzten Winkeln, welche zu einer Verschiebung führen und damit die Sehgewohnheiten des Betrachters herausfordern. Unsere Vorstellung von Raum als etwas Statisches wird massiv Infrage gestellt und kippt, wankt in der Vielansichtigkeit der von Theurer vorgetragenen Perspektiven. Arbeiten wie „Raumparadox“ oder „Raumgrenzen“ aber auch die Bronzen „Der relative Raum“ und „Gehäuse“ spielen mit der Verschränkung und der Durchdringung von Innen und Außen und sie zeigen überdies, dass in jeder Flache auch die Information und die Möglichkeit für ein Vordringen in den Raum angelegt ist.

Theurer hat zunächst mit Stein und Holz, sowie mit Bronzeguss gearbeitet, doch die besondere Lichtsituation in einem seiner Ateliers und die Freude am Wechselspiel von Licht und Schatten, Fläche und räumlicher Tiefe führte ihn bei seiner Suche nach einem neuen Material schließlich zur Wellpappe. Alleine die Struktur ihrer Oberfläche kommt ihm mit ihrem fast barocken Wechsel von vor- und zurückspringenden Partien und dem dadurch hervorgerufenen Wechsel von Hell und Dunkel entgegen, doch er erweitert die hier angelegten Möglichkeiten durch zusätzliche Eingriffe. Der Künstler grundiert die Pappe um sie beständiger zu machen und betont ihre grafische Struktur durch den Auftrag von Acrylfarbe. Überdies überstreut er das Material partiell mit Sand, der sich in die Vertiefungen hineinsetzt und wiederum malerische Strukturen bildet. Das von der Art der Beleuchtung und der Bewegung des Betrachters abhängige, wechselvolle Spiel der Schatten auf den solchermaßen kontrastreich beschaffenen Oberflächen bringt nun eine weitere, durch die Kraft der Veränderbarkeit geprägte Ebene ins Bild. Mit dem Sand schwebt ein Hauch von Vergänglichkeit über diesen Werken und zum Thema „Raum“ tritt damit der Faktor „Zeit“. Diesen Aspekt möchte ich angesichts der ausgestellten Arbeit „Schattenwelt“ weiter verdeutlichen, die Sie ja auch auf der Einladungskarte finden. Die Abbildung zeigt überraschenderweise zwei Schlagschatten, und so fragt man sich, welcher von beiden wohl aus dem Stand der Sonne resultieren mag. Blickt man genauer hin, so erkennt man, dass der rechte Schatten im Laufe des Tages weiterwandern wird, während sich der linke aus schwarzem Sand fügt, also materiell vorhanden ist und in seiner Position verharren wird. Stillstand und Veränderung – Theurer setzt die reale Zeit außer Kraft und führt uns in eine „Schattenwelt“ – in einen brüchigen Raum der reinen Imagination.

Wir finden in der Ausstellung einige ältere Bronzen aus den 1990er Jahren, die zu einer Zeit entstanden sind, als der Künstler Wellpappe noch nicht als eigenständiges bildhauerisches Material benutzte. Zunächst setzte er die wellenförmige Oberfläche und die Variabilität ihrer Zuschnitte zwar für sein bildhauerisches Konzept ein, übertrug sie dann aber in den klassischen Bildhauerwerkstoff Bronze. Das Pathos von Bronze als traditionellem Material von Herrscherportraits, Standbildern und Denkmälern und damit als Inbegriff der Ewigkeit wird inzwischen von ihm ad absurdum geführt. Heute steht das provisorische und vergängliche Material Wellpappe den Arbeiten aus Stein, Holz und Bronze gleichberechtigt zur Seite und strahlt eine große Skepsis gegenüber der Dauerhaftigkeit und Geschlossenheit eines Kunstwerkes aus. Pappe könnte man daher als eine Metapher für die Unberechenbarkeit der Gesellschaft und Instabilität der Welt auffassen und damit befinden wir uns bereits im Bereich der Werkdeutung. Das mag erstaunen, denn indem der Künstler bevorzugt mit geometrisch abstrakten Formen arbeitet, könnte man sein Werk in die Nähe von konstruktiven Skulpturen rücken. Dies träfe allerdings nicht den Kern der Dinge, denn Theurers Geometrie betont keine Statik, sondern impliziert Aspekte wie Beweglichkeit, Mehrdeutigkeit und Veränderung und ist keineswegs von persönlichen Emotionen befreit. Über den Umgang mit Material und Form hinausgehend, wollen seine Skulpturen unseren Blick auf die Welt weiten. Durch Umkehrungen der Perspektive, durch diese „schrägen Raumkonzepte“, entsteht eine Bildwirklichkeit, die viele Wahrheiten in sich vereint und uns nach immer neuen Wahrheiten und neuen Perspektiven suchen lässt.

Dazu ein Zitat des Kunsthistorikers und Kurators Cetin Güzelhan: „Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.“

In unserem Vorgespräch habe ich den Künstler gefragt, wie sich die figürlicheren Werke in sein Raumkonzept fügen. Betrachten Sie im Hinblick darauf diese aus der Zeit herausgelösten, wächterhaften Gestaltungen oder die drei Bronzen „Verhüllt I-III“. Theurer meinte, dass seine räumlichen Verschiebungen nur bis zu einem gewissen Abstraktionsgrad möglich wären und er an jener Stelle nach neuen Ansatzpunkten suchen müsse, an der er keine lesbare Perspektive mehr zeigen könne. Hier kommen die figürlichen Arbeiten ins Spiel, geben sie ihm doch die Möglichkeit, dieses andere Raumverständnis wieder im Realen zu verorten.

Sehr geehrte Damen und Herren, an den Werken von Andreas Theurer fasziniert mich die Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren. Aus dem rhythmischen Zusammenspiel von Licht und Schatten, Fläche und Raum, Ruhe und Bewegung ergeben sich vieldeutige Bildwelten, die nicht nur das materiell Greifbare, sondern auch das Unbegreifbare, das Abwesende, erkennbar und empfindbar machen.

Antje Lechleitner
studierte Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie sowie Klassische Archäologie in Würzburg und Freiburg. Sie ist als Kuratorin, Kunstjournalistin und Dozentin in Freiburg im Breisgau tätig.

Rainer Ehrt . 2018

zur Vernissage Theurer / Beumelburg am 3.6. im Kunstverein Kleinmachnow (Auszug)

Andreas Theurer stammt aus Göppingen und hat an der Kunstakademe Stuttgart bei Alfred Hridlicka Bildhauerei studiert. Nach verschiedenen Lehrämtern in Braunschweig und Berlin ist er seit 1993 Professor an der Hochschule Anhalt am Bauhaus Dessau. Eine große Ausstellung von ihm ist übrigens gerade in der Vertretung des Landes Rheinland -Pfalz in Berlin zusehen, zusammen mit Bildern von Edite Grinberga. Ich erwähnte schon seine Relief- Skulptur „Raumparadox“, die auf eine strenge, aber doch auch spielerische Weise einen artifiziellen Raum im Raum öffnet (Einstein hätte seine Freude daran gehabt…)

Theurer sagt selbst dazu: „Ich arbeite mit einer Geometrie, die nicht der Verortung, sondern der Ortsveränderung geschuldet ist. Zeit-Geometrie hab ich sie manchmal genannt“. In diese Ausstellung reichen seine Mittel dazu von gebeizten, bemalten, angeschliffenen Hölzern über lasergeschnittenen Stahl bis hin zu Skulpturen aus leichter Wellpappe, welche letztere er aber auf faszinierende Weise kolossal, schwer und zeichenhaft zu machen versteht, so dass man kaum glaubt, dass die alten Dielen des Landarbeiterhauses sie aushalten. Die Monumentalität, Zeichenhaftigkeit und existentielle Wucht von Theurers Figuren sind also nicht nur am Material, auch nicht nur an der schieren Größe festgemacht, groß sind sie auch im Kleinen. So wenig zufällig sich harte und weiche Kanten, glatte und schrundige Oberflächen, geballtes Volumen und feine stereometrische Lineaturen in dieser Plastik begegnen, so wenig zufällig sind sie auch im jeweiligen Raum, in dem sie sich aufhalten, und zueinander platziert. Sie dialogisieren doppelt: Mit uns und untereinander. Theurers Figuren bringen es fertig, bestimmend und offen zugleich zu sein, und sie wirken nicht gesucht, sondern gefunden, um einen bekannten Satz Picassos abzuwandeln. Die samtigen Schwärzungen und illusionären Raumlinien, welche sie überziehen, sind Elemente einer beinahe sakralen Stille und eines anderen, erweiterten Raumverständnisses, aber daneben und darüber hinaus sind sie auch einfach von einer strengen Schönheit.

Rainer Ehrt
(* 13. August 1960 in Elbingerode, Harz)
ist ein deutscher Maler, Grafiker, Illustrator, Cartoonist und Autor. Für sein künstlerisches Werk hat er zahlreiche nationale und internationale Preise erhalten. Er lebt in Kleinmachnow und ist Leiter des Kleinmachnower Kunstvereins „Die Brücke“.

Dorothee Bauerle-Willert . 2016

zur Eröffnung der Ausstellung „Marion Eichmann, Karsten Kusch, Andreas Theurer“ im Gehag Forum der Deutsche Wohnen AG am 22.06.2016 (Auszug)

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich im Gehag Forum/Deutsche Wohnen – und wohnen ist ja ein komplexer Begriff. Mit Peter Sloterdijk erinnern gerade die Künstler als Tiefenbewohner der Welt an die Frage, wie das Welthaus überhaupt zu bewohnen sei. Es sind die ,Anderswohnenden‘ und ihr sein in der Welt bedeutet immer auch Mitarbeit an den mannigfachen Formen der Welt, am Fundus der Kultur. Kunstwerke erschließen den Raum, gestalten ihn zum Ort, konstituieren ihn in dem steten Wechselspiel von Ausräumen und Einräumen, von Zulassen und Einlassen – und gerade in der Plastik, der Skulptur ist das, „was zuerst und vor allem Einzelnen wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst.“

Aber Kunst ist auch Material, denkt das Material in Verbindung mit möglichen anderen Materialien und dem Raum selbst. Raum ist Ordnung, Kontext und Ortung. In einem zentrifugalen Impuls verbindet sich die Kunst heute mit ihrer Umgebung. Kunst ist Bewegung. Standbein / Spielbein, der Kontrapost und das Dazwischen. Die Kunst ist räumlich, auch wenn sie nicht greifbar ist, und sie lebt von dem Verhältnis, das wir als Betrachter zu knüpfen in der Lage sind. Ihr Feld ist offen und weit. Die Kunst koaliert mit der Gegenwart und der Gesellschaft. Sie ist reale Präsenz und provoziert immer wieder neu gegenwärtiges Wahrnehmen und Erfassen.

Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Skulpturen von Andreas Theurer, die hier in dem fließenden, klar akzentuiertem Raum in diesem Gebäude aus den 36er Jahren des letzten Jahrhunderts versammelt sind und jeweils ein besonderes Verhältnis zwischen Raum und Fläche, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Zeichen erspielen und setzen. Die neueren Arbeiten hier sind aus Wellpappe und präzise aus diesem eher nonchalanten Material heraus gedacht. Abstrakte, architektonische Formen, aus geometrischen Grundelementen, wie dem Würfel entwickelt setzen sie ein vielfaltiges Wahrnehmungsspiel in Gang, öffnen sich zum Raum, der nun kein jenseitiger mehr ist, gehen um mit dem zerbrechlichen Kontinuum, in dem wir leben, das unser Leben ist – und seiner Vielansichtigkeit. Die Körper und Formen irritieren, unterminieren Muster und Sehgewohnheit: Auf den ersten Blick erscheinen sie von anderer Materialität, als stabile Eisenskulpturen – ein Material-Mimikry, das in der Skulptur über Material denkt. In der malerischen Behandlung der Flächen, in den Lasuren und konsolidierenden Schichtungen öffnet sich die Struktur zu einem Dialog zwischen Dekonstruktion des Festgefugten und der Materialität, zwischen Licht und Schatten, zwischen Zeit und Ewigkeit. Ganz selbstverständlich sind es Denkfiguren der Öffnung auf eine andere Sicht der Welt, einer Welt die ja zunehmend ins Wanken gerät, flüchtig und flüssig geworden ist.

Auch die fast archetypisch anmutenden Figuren, fragende Wächter, diskutieren basale skulpturale Fragen, und dies fast im Paradox: Gerade in der subversiven Flächigkeit, in und durch ihre Silhouette erreichen die Stelen eine räumliche Präsenz, eine ganz eigene Weise der Anwesenheit im Raum. Als ob sie ihren materialen Kern verlassen wollten, stehen diese Menschenzeichen, transzendieren und transponieren ihre Volumina ins Imaginäre. Damit ist auch ein grundlegender Konflikt des Skulpturalen angesprochen: Die Figuren changieren zwischen organischer Körperbildung und kubischer Abstraktion, zwischen Leiblichkeit und Bild, zwischen der graphischen Bezeichnung zum Körperbild, zwischen der kondensierten Kraft und der Intensität des Augenblicks, zwischen dem Traum der Malerei und der Wirklichkeit der Plastik, um eine Unterscheidung von Herder aufzunehmen.

In den Skulpturen von Andreas Theurer und dem, was sich in ihrem Zwischenraum ereignet, geht es also weniger um den Zustand als um einen Prozess, der die uneinholbare Prozessualität des Sehens, des Wahrnehmens einbegreift, der sich der Fixierung und Kontrolle entzieht. Dabei ist der Raum Teil und Auslöser der Entwürfe, die die Welt nicht als unabhängiges Bild zeigen, sondern in ein Feld von Möglichkeiten verwandeln.

Dr. Dorothée Bauerle-Willert
(* 9. Juli 1951 in Göppingen . † 15. Nov. 2022 in Montegrotto)
studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Lehrtätigkeit an der Universität Köln sowie den Kunsthochschulen Dresden und Halle. Seit 2010 Gast-Dramaturgin am Landestheater in Bregenz. Verfasserin zahlreicher Publikationen zur zeitgenössischen Kunst.

Birgit Möckel . 2015

Nicht von Pappe.

Zur Sprache des Materials in einer aktuellen Werkreihe von Andreas Theurer.

Ja, sie sind aus Pappe, diese neuen Skulpturen von Andreas Theurer. Konsequent aus diesem Material gedacht und entwickelt, zeigen sie die originäre Handschrift eines Bildhauers, der mit bewusst gewählter Stofflichkeit, Oberflächenreizen und Farbnuancen größtmögliche Wirkung der Formen im Raum erreicht und nicht zuletzt gerade durch das Material weitreichende inhaltliche Konnotationen weckt. Sie täuschen nicht, diese hochaufragenden geschlossenen Körperformen. Sie spielen vielmehr mit Licht und Schatten, mit der Illusion von Fläche und Raum und so dichten wie transparenten Strukturen. In der fragmentierten Außenhaut offenbart sich eine gleichsam archäologische Topographie oder Seelenlandschaft – als umfassende Projektionsfläche einer weithin sichtbaren und spürbaren brüchigen Realität.

Der Bildhauer Andreas Theurer weiß um die spezifische und durchaus auch kulturell geprägte (Aussage)kraft von Material, sei es Holz, Stein, Bronze oder – wie hier – schlichte Pappe, Sand und Farbe. Mit dem aufgrund seiner mehrschichtigen Struktur äußerst stabilen Werkstoff entwickelt er irritierende Körper und Räume, deren perspektivische Wechsel und Ansichten immer neu unsere eingefahrenen codierten Sehweisen ins Wanken bringen. Präzise aufgefächert, mit harten, teils holzschnittartigen Kanten und Konturen, öffnen und schließen sich diese komplex strukturierten, ganz in sich ruhenden Statuen und architektonischen Körper, um – peu à peu im Umschreiten – mit unerwarteten Perspektiven und neuen Deutungsmöglichkeiten zu überraschen. Passagen aus kontrastierenden malerischen, graphischen, hellen und dunklen Partien folgen einem eigenen Rhythmus und inneren Reiz, der zwischen den Gesetzmäßigkeiten von Material und Form und so assoziativen wie naturnahen Prozessen oszilliert. Im fließenden Miteinander der einzelnen Flächen entsteht die Lebendigkeit eines facettenreichen Materials, das jedes Teilstück eines umfassenden Ganzen spannungsreich einbindet, Hülle und Kern umfängt und aus der Nähe Ferne zu evozieren weiß – oder vice versa.

Was verbirgt sich hinter der Fassade dieser Archetypen, die sich mit einer dünn lasierten rostrauen Tarnung wappnen, die in der Nahsicht umso deutlicher die Verletzbarkeit der Außenhaut preisgibt. Ob Mimikry oder Camouflage – die Schutzmechanismen der Natur und des Menschen funktionieren bestens aus der Distanz, um im direkten Gegenüber eine bühnenhafte Illusion zu offenbaren, die eigenen Wirkmechanismen folgt. Ob aus der Evolution geboren oder zu militärischen Zwecken genutzt, jedwede variantenreiche Tarnung hilft zu überleben und täuscht den Feind oder den arglosen Betrachter, der sich den Figuren und Raumskulpturen des Bildhauers nähert. Wie Zeugen fremder Kulturen erzählt ihre (Zurück)-Haltung und reduzierte klare Form von einer fernen Zivilisation, während das Material in seiner Einfachheit und alltäglichen dinglichen Präsenz sie ganz in der Gegenwart verankert.

Der Dialog von sichtbarer Dekonstruktion der Oberfläche und warm schimmernden gleichsam festigenden Lasuren und dem damit verbundenen Licht- und Schattenspiel rückt die Idee eines Materials vor Augen, das auf Dauer angelegt ist. Doch was bedeutet jener Gedanke an Ewigkeit angesichts einer Welt mit immer neuen Krisenherden, zerstörerischen Kriegen, dem nicht endenden Verlust von Menschenleben und kulturellem Gedächtnis? Was zeigen menschenleere Architekturfragmente, die Andreas Theurer möglichst flach an die Wand schmiegen lässt, um von dort eine größtmögliche illusionäre Raumwirkung und Sogkraft zu entfalten – insbesondere im Dialog mit seinen gleichsam aus der Zeit heraus gelösten und doch auf das engste mit der Gegenwart verbundenen Figuren?

Mit leichter Hand haben sich diese Protagonisten aus dem Schatten ihrer massiven Pendants gelöst und ihren Platz im Oeuvre erobert. Gleichsam herausgeschält aus dem innersten Kern einer zutiefst humanistisch geprägten künstlerischen Idee bilden sie jetzt eine neue Werkgruppe, die eigene Schatten wirft: zuweilen ganz real aus schwarzem Sand. Was ist Wirklichkeit? Was ist Vorstellungskraft? Neben dem Material Stein und dem hell und dunkel gefassten Holz seines bisherigen Oeuvres, ist es vielleicht gerade die Synthese aus Anpassungsfähigkeit und mit leichter Hand zu transformierenden Werkstoffes Pappe, die sich Andreas Theurer zu eigen macht, um über die tradierte geometrische Perspektive und Modellhaftigkeit hinaus weitere authentische Wahrnehmungsräume zu schaffen, die vom Innersten des Menschen und einer umfassenden Seelenlandschaft erzählen – als zeitliche Spur und brüchige Realität.

Dr. Birgit Möckel
(* 1958 in Bruchsal)
ist Kunsthistorikerin in Berlin. Sie ist als Autorin, Kuratorin und Lehrbeauftragte tätig sowie Vorsitzende des Kunstverein KunstHaus Potsdam e.V.

Heribert Prantl . 2012

Auszug aus der Festrede zur Einweihung des Wirth-Denkmals „Tribüne“ in Hof am 25.11.2012

Liebe Freundinnen und Freunde der Pressefreiheit, liebe Festgäste bei der Feier dieses schönsten und einzigen Denkmals der Pressefreiheit in Deutschland, das Hof zu einem Ort macht, an dem man die Demokratie begehen, betreten und auch besitzen kann:

Einigkeit und Recht und Freiheit haben jetzt hier in Hof einen ganz besonderen, einen ganz speziellen Ort. Hof wird damit sozusagen zur „Deutschen Tribüne“

Prof. Dr. Heribert Prantl
(* 30. Juli 1953 in Nittenau, Bayern)
ist ein deutscher Jurist, Journalist und Autor. Er leitet das Ressort für Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung in München und ist Mitglied der Chefredaktion.

Fritz Jacobi . 2012

Körper zwischen Statuarik und Anschauung

Zum Schaffen von Andreas Theurer seit Anfang der 1990er Jahre

Im Jahre 2001 begann Andreas Theurer mit der Gestaltung einer Werkreihe von überlebensgroßen Holzfigurationen, die zu den Hauptwerken seines Schaffens in der jüngeren Vergangenheit gehören. Stelenartig aufragende menschliche Körper vermitteln in Arbeiten wie „Cassandra“, 2001/2003, „Geflecht“, 2001/2003, „Verflochten“, 2001/2004, „Requiem“, 2001/2004, „Thanatos“, 2003/2004, oder der Bündelung mehrerer Gestalten in „Entwurzelt“, 2004, eine starke, blockartig verdichtete skulpturale Kraft. Obwohl sie von einer beinahe expressiven Formensprache geprägt erscheinen, erinnern sie doch eher an elementare Gefäßformationen, die – sorgsam ineinander gefugt – die Wirkung tektonisierter Körpergebilde annehmen. In diesen aus Kiefernholz gearbeiteten Figurationen, die zusätzlich noch mit meist dunkler Beize und Farbe behandelt wurden, dominiert ein straff verspanntes Rhythmusprinzip. Nicht nur die zur Eigenständigkeit neigenden kubischen Teilpartien, sondern auch das Konturen betonende Netzwerk geometrisierender Lineamente gliedern die Skulpturen in flächige Segmente, lassen zugleich aber den Eindruck entstehen, als ob hier gratige Felsmassive aus dem Boden erwachsen.

Diese Menschenzeichen muten an wie verschattete Wesen, deren lebendiger Entfaltungsdrang in einer gleichsam erstarrten Ummantelung fest eingebunden wird. Die Gestaltgefüge von Andreas Theurer stehen in dem grundlegenden Konflikt zwischen organischer Körperbildung und abstrahierter Formenwelt. Das erkennbar Leibhafte erfährt durch die freien Strukturen wie schräge Linienverläufe, verkantete Vorsprünge oder scharfe Durchbrüche eine spürbare Verfremdung, die deutlich auf eine ganz bestimmte gestalterische Intention verweist: die Synthese von plastischen und bildnerischen Wirkungsformen.

„Ich kann das Außen wie das Innere zeichnen!“, bekannte Andreas Theurer jüngst bei einem Atelierbesuch und formulierte damit etwas zugespitzt ein Credo, das ihn nunmehr seit über zwei Jahrzehnten mehr und mehr beschäftigt hat. Schon um 1991/1992 tendierten seine Skulpturen zu einer zunehmend flächenhaften Außenwandung in streng gefassten Kuben oder sie verwandelten sich mitunter sogar in breit gezogene Körper-Bilder, die mit einer deutlichen Schmälerung des realen Volumens einhergingen und stattdessen den optischen Eindruck von räumlicher Tiefe suggerierten. Schon damals zeichnete sich eine Entwicklung ab, welche in der Folgezeit eine immer stärkere Bedeutung erlangen sollte: Im Verhältnis von Körper und Raum suchte Theurer eine Gestaltungsform, in der das Plastische einerseits als reale Gegebenheit mit all ihren körperlich-haptischen Eigenschaften zum Tragen kommt, andererseits aber auch als visuelle Erscheinungsform des Dreidimensionalen wahrgenommen wird. Die nach außen drängende Kraft des Skulpturalen sollte sich mit der Intensität des Augen-Blickes verbinden – sehr entfernt mit der Reliefgestaltung verwandt, doch letztlich auf eine ganz eigene Ausprägung plastischer Auffassung gerichtet.

Es geht dem Bildhauer und Objektkünstler Andreas Theurer im übertragenen Sinne um eine „Entschwerung“ der Skulptur und gleichzeitig um den Hinzugewinn einer offeneren Betrachtungsart, gleichsam um eine neue Mehrschichtigkeit plastischen Begreifens. Es ist ihm in vielen seiner Werke gelungen, diese Ambivalenz des Realen in künstlerischer Form aufzubereiten, indem seine Skulpturen gewissermaßen aus ihrer Verankerung gelöst und in übergreifende Zusammenhänge gestellt werden. Die Gewichtigkeit des Körperlichen und die Lesbarkeit der Fläche, reale Raumverdrängung und illusionistisches Bild sowie figurale Anmutung und zeichenhafte Verknappung verschwistern sich in seinen Arbeiten zu einer Anschauungsform, welche das plastische Gegenüber anders reflektieren lässt. Aus der Vielzahl seiner oft auch experimentell angelegten Arbeiten seien hier nur drei Werkgruppen, die über Jahre hinweg zu immer wieder modifizierten Fassungen einer Grundidee geführt haben, herausgegriffen und etwas näher behandelt. Schon seit 1991 begann für Andreas Theurer die schräge Form in verkanteten Würfelformationen eine wirklich prägende Rolle zu spielen. Am Anfang entstand die „Kleine Illusion“, 1991, der die „Große Illusion“, 1992, „Zeit-Raum II“, 1993/2000, „Platons Würfel“, 1995, die Reihe kleiner Torgebilde wie „Potemkinsches Haus“, „Für Paul Virilio“ oder „Fremder Horizont“ und „Labyrinth“, 2000, folgten. Auch die Reihen der „Ruine“-Tafeln, 2002/2004, und der „Zeit-Faltungen“, 2009/2011, gehören in diesen Werkverbund, denn in all diesen über die Fläche ausgebreiteten Körperzeichen stoßen richtige perspektivische Ansichten mit einer fehlenden plastischen Entsprechung oder einem unvermittelten horizontalen Beschnitt direkt aufeinander. Irritiert versucht der Betrachter, der von der spannungsvollen Klarheit der Formbildung angezogen wird, die jeweilige Anschauung zu vollenden, muss sich letztlich aber darauf einstellen, den beiden Wahrnehmungsformen ihre Geltung zu belassen. Man denkt unwillkürlich an optische Täuschungen und wird sich der Relativität des Sehens bewusst.

Einen anderen Weg der Überschneidung unterschiedlicher Wahrnehmungen wählt Theurer, wenn er die Möglichkeiten flacher Metallplatten im Hinblick auf ihre räumlichen Entfaltungen auslotet. 2007 ergab sich für ihn im Rahmen eines Auftrages für den öffentlichen Raum die Gelegenheit, mit großen Stahlblechen zu arbeiten. Das „Offene Haus“, das in der Nähe des Berliner Nollendorfplatzes Aufstellung fand, vereint die Darstellung einer Figur, die zur Hälfte als positive Umrissfläche, zur anderen Hälfte als ausgeschnittene Negativfläche gestaltet wurde, mit der dachartig abgeschlossenen Form eines Gehäuses, das ebenfalls mit einem Tür ähnlichen Ausschnitt versehen ist. In weiteren verwandten Arbeiten wie „Grenzland“, „Annexion“, beide 2008, und „Chronos“, 2010, variiert Theurer diese ineinandergreifende Dualität von Figur- und Wandfläche, während er in „Schwerelos“ und „Freiraum“, beide 2008, den Ausklappungsmöglichkeiten der reinen Geometrie des Quadrats in die räumliche Gestalt hinein nachspürt. Die wechselseitige Beziehung von fester und offenen Form beschäftigt hier das betrachtende Auge, animiert zum gleichzeitigen Sich-Gegenüberstellen und lässt diesen permanenten Schwebezustand zwischen dem Durchgängigen und dem Unzugänglichen fühlbar werden, der uns eigentlich täglich in mannigfaltiger Art und Weise begegnet.

Wie eine Vorbereitung auf diese Werkgruppe kann das 2003 in Holz gearbeitete, lebensgroße „Himmelstor“ gelten, das innerhalb einer vertikal errichteten Wand den Ausschnitt einer menschlichen Figur – zum Körperzeichen verknappt – vergegenwärtigt und einer plastisch ausgeformten liegenden Figur gegenüberstellt. Dieser Bezug von aktivem Erscheinungsbild und passivem Realkörper lässt eine sehr intensive Metaphorik von Sein und Nicht-Sein entstehen, ohne wirklich nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst werden zu können.

Die Durchdringung von Figur und Gegenstand spielt im Schaffen von Andreas Theurer immer wieder eine wesentliche Rolle, aber auch die pure Objektgestaltung pendelt sich häufig auf die Existenzproblematik des organischen Körpers ein. Arbeiten wie „Thron“, 2000/2004, „Labil“, 2005, „Schritt für Schritt“, 2007, oder die unregelmäßig geformten Wandelemente „Raum beflügelt“, „Raumparadox“, beide 2009, und „Arche“, 2009/2011, veranschaulichen eine merkwürdige Instabilität, die sich als unwägbare, doch gleichermaßen rustikale Spurenzeichen zwischen Werden und Vergehen erweist und damit impulsartig die wechselnden Positionen eines bewegten Seins symbolisiert.

Selbst sein großes, Wellen artig ausgespanntes „Denkmal für Johann Georg August Wirth“ in Hof, 1998 in einer ersten und 2012 in einer leicht veränderten Fassung eingeweiht, trägt Züge einer solch immerwährenden Veränderung, welche uns in der Natur, in der Gesellschaft oder auch im eigenen Sein stets begleitet. Diese begehbare Bodenskulptur sucht die Erdnähe und wölbt sich doch in den Raum hinein, avanciert zum Objekt der Anschauung und lässt sich zugleich in einen Ort von Handlung verwandeln – ein Spannungsverhältnis mithin, das den Werken von Andreas Theurer zumeist in äußerst anregender Form innewohnt. Cetin Güzelhan hat diese Intentionen des Künstlers einmal in sehr treffenden Worten so zusammengefasst: „Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.“

Katalog „Fremder Horizont – Andreas Theurer“, Damm und Lindlar-Verlag, Berlin 2012

Dr. Fritz Jacobi
(* 23. April 1944 in Dresden)
ist Kunsthistoriker in Berlin, Kustos an der Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen zu Berlin a. D.

Jochen Boberg . 2012

Zerbrechliches Kontinuum – Das Spiel mit Raum und Zeit

„Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte.

… als ob die Menschen alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, manchmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen.

(Ich würde) … die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstern glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz einnehmen in der ZEIT.“

(Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, letzter Absatz)

Alle Kunst – von Anfang an und unabhängig von Benennungen – ist Setzung  im gelebten Raum, in durchlebter Zeit. Und wir haben es mit großer – lieber würde ich sagen „wahrer“ – Kunst zu tun, wenn uns das von Proust so eigentümlich beschriebene Verhältnis existenzbedingender Dimensionen durch sie ins Bewusstsein geriete, auf den Leib rückte und damit im ursprünglichen Sinn zum „Bild“ würde.

Einige Namen, die Theurer seinen Objekten gibt: „Raum-Zeit“, „Relativer Raum“, „Platons Würfel“ – also das Objekt, das doch nur sein eigener Schatten ist, „Labyrinth“ – unentrinnbar, „Große Illusion“ – der gekippte Menhir, der Raumbrocken mit dem noch schwerer belasteten Sisyphos, „ Zeitfaltungen I – III“ – mit Sprache (Wissen) versetzte Räume, die in die Zeit kippen, die geklappten „Freiräume“, dünnwandig und zeitdurchlässig, früher schon das „Raumparadox“, nicht zwei Seiten einer Münze, sondern die Janusköpfigkeit der Erfahrung, und dann das „Requiem“, der Mensch, der aus der Zeit geht, im Raum den Schatten hinterlässt, den der noch vorhandene Körper wirft.

Das sind nicht geistvolle Titel. Das ist die Wahrheit, also die Kunst des Andreas Theurer, wie ich meine: von Anfang an. Die frühen Figuren nehmen mit aller Macht den Raum ein, der ihnen gegeben ist; dann die Figuren, die mit schwerer Last sie selbst sein müssen: jeweils Portraits der inneren Befindlichkeit des Menschen. Selbst da, wo dann die menschliche Figur scheinbar fehlt, tritt an ihre Stelle die Sprache – wie beim Denkmal, oder der behauste Ort, an dem die Skulptur ihren Platz findet.

Natürlich wandelt sich bei Andreas Theurer mit der gelebten Zeit der Blick auf die Welt, ändern sich auch die Materialien, mit denen er das ausdrückt. Heute kennen wir  das Innerste und Äußerste der Welt, die Relativität von Raum und Zeit, die N-Dimensionalität des Alls, die Strings, die Wurm- und schwarzen Löcher im All. Da wäre es absonderlich, wenn ein in der Zeit lebender Künstler das nicht wahrnähme. Man kann es (wie ich finde: abschätzig) Entwicklung nennen. Ich sehe darin mehr das starke, bewusste künstlerische Individuum, dem es ein Anliegen ist, uns auf dem Weg mitzunehmen. Das ist ein Privileg der Kunst, des Künstlers.

Und noch etwas: Andreas Theurer arbeitet mit unterschiedlichen Materialien und in unterschiedlichsten Dimensionen: Stein, Holz, Metall, sogar mit Draht und Pappen. Seine Werke: manchmal winzig klein und dann wieder geradezu monumental. Ein Zeichen von Beliebigkeit? Nein, definitiv nein, denn neben aller inhaltlichen Kraft versteht er sein Handwerk. Er weiß um die den Materialien innewohnende Kraft, die „Materiallatenz, eine unabdingbare Voraussetzung für gute Kunst. Das Zerbrechliche sagt Zerbrechliches, das Schwere Schweres, das Labile Labiles. Die Kunst, zumal die bildende, müsse immer wieder durch das Material hindurch; erst dann könne sie wirken, wirklich sein, zutreffen. Das weiß Andreas Theurer und handelt damit meisterlich. Hier ist – weil so oft vergessen – Anlass, über Qualität zu sprechen, die das Kunsturteil bestimmen sollte. Nicht die Mode, nicht der Markt, nicht das Geschmäcklerische entscheiden am Ende über den Wert der Kunst, sondern das gut gemachte und Bedeutung tragende Werk. Genau an diesem Ort ist Andreas Theurer.

Wie als Beweis dafür taucht dann im Werk die Skulptur „Goldstaub“ auf (Seite 54-55). Eine monumentale Figur, wie aus der Zeit genommen, den Raum beherrschend und vom Gold erleuchtet. Im Gegenüber mit diesem Bild bedarf es keiner divinatorischen Interpretation. Man muss sich auf den Dialog einlassen und wird eine eigene Welt erfahren.

Katalog „Fremder Horizont – Andreas Theurer“, Damm und Lindlar-Verlag, Berlin 2012

Dr. Jochen Boberg
(* 20.06.41 in Wesel am Niederrhein)
ist Kunsthistoriker und Museumsdirektor, war zuletzt Direktor der Museumsdienste Berlin und verfasste zahlreiche Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte.

Herbert Schirmer . 2010

über Andreas Theurer, Katalog „Ateliers & Werkstätten“, Lübben 2010

Andreas Theurer hält die Verbindung zwischen Tradition und Moderne und baut damit zugleich eine Rezeptionsbrücke, die zwischen den figürlichen Skulpturen aus Stein und den abstrakten Gestaltungsformen aus Wellpappe vermittelt. Einerseits setzte er sich engagiert mit dem menschlichen Körper auseinander, den er in seiner realistischen Ausprägung wie ein Artefakt einer bedrohten, untergehenden Zivilisation behandelt, andererseits weist die Monumentalplastik “Himmelstor” deutliche Bezüge zur Minimal Art auf.

Sie erinnert in ihren kompakten Volumen und der geometrischen Sprache an industrielle Formen. Massiv geschlossene neben durchlässigen Einzelformen suggerieren ein Tor, das Durchlässigkeit gegenüber dem Umraum markiert und dessen zeichenhafte Signifikanz für eine Spiritualisierung der Skulptur steht. Ein künstlerisches Konstrukt, in das Eindeutigkeit, Rätsel und ironische Brechung zu gleichen Teilen eingehen. Das trifft auch auf die bestechend klare Sachlichkeit und die konstruktivistischen Elemente in den aus Wellpappe geformten Objekten zu.

Deren Intensität wird durch die zeitgenössische Obsession für das Thema Informationsgesellschaft gesteigert. Wortspiele und Textfetzen, die als fragmentarisch lesbare Typografie der konstruktiven Erscheinung des Objektes angepasst sind, transferieren die allgegenwärtigen Informationsmedien auf die Ebene sozialer Kommunikationsklischees.

Herbert Schirmer
(* 8. Juli 1945 in Stadtlengsfeld)
war von April bis Oktober 1990 Minister für Kultur der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière. Er lebt als Journalist in Lieberose und ist Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Neue Kultur.

Çetin Güzelhan . 2006

Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.

Çetin Güzelhan
(* 1961 in Gaziantep, Türkei)
ist Kunsthistoriker. Er forschte im Topkapi-Palast in Istanbul über Aby Warburg, ist Berater der Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ und Kurator zahlreicher Ausstellungen.

Eugen Gomringer . 1998

Festrede zur Einweihung des Wirth-Denkmals in Hof am 26.07.1998

Meine Damen und Herren,
dass unsere Gesellschaft – Gesellschaft im weitesten Sinne verstanden – Schwierigkeiten hat mit Denk- und Mahnmalen, ist nicht erst durch die Auseinandersetzungen über ein Holocaust-Denkmal in Berlin bewusst geworden. Es sind fast nur noch die Diktaturen, die hemmungslos Standbilder jeder Dimension sich leisten. Für sie liegt die Ästhetik fest. Nicht aber so bei uns, und einer der Schwierigkeiten der Demokratie wird es immer sein, sich festlegen zu können auf eine bestimmte bildnerische Aussage. Überdies haben wir ja von künstlerischer Seite schon lange keine verlässlichen Stile mehr, sondern viele Kunstreflexionen und viele Argumente für alle Gegensätze. Die Kunst genießt Freiheit wie nie zuvor, was unter anderem, wie ein ganz aktueller deutscher Philosoph bemerkt, dazu führt, dass sie gar nicht mehr die Konsensfrage stellen lässt, sondern die Bestimmung dessen, was als Kunst zählt, immanent behandelt.

Nun, was unser Denk- und Mahnmal betrifft, bestand der Wunsch von Seiten der Auftraggeber und Stifter, dass es nicht nur eben ein Denkmal für Dr. Wirth sein sollte, sondern zudem noch ein Kunstwerk. Dieser letzteren Forderung habe ich es wohl zu verdanken, meine Damen und Herren, dass mir die Ehre zufällt, das vorliegende Werk in seiner ästhetischen Funktion zu würdigen. Ich bin kein Historiker und mit Wirth verbindet mich außer einem menschlichen Verständnis gerade ein Aufenthalt vor sieben Jahren im Schweizer Kanton Thurgau am Bodensee, der meiner Rückkehr nach Deutschland, nach Oberfranken, allerdings besseren Vorschub leistete als ihm, Dr. Wirth.
Sein reichhaltiges, aber geplagtes Leben lag den Wettbewerbsteilnehmern in einer ausführlichen Beschreibung vor. Thematisch einschränkend war, dass Wirth für Freiheit und Humanität als ein Mann des Wortes und der Schrift, als unermüdlicher Gründer und Verfasser von Publikationen, kämpfte. Denn es hat sich in der Geschichte der Kunst immer wieder die Frage gestellt, wie man einem Schriftsteller mit einem Denkmal gerecht werden kann. Früher, als man sich nicht scheute, einen Menschen, vornehmlich einen Mann, in seiner gewohnten Kleidung vorzustellen, eventuell noch mit Hut, sicher aber mit einem Buch und der Schreibfeder, war eine solche Lösung weit verbreitet. Der eine oder andere nähert sich in fremden Städten einem solchen Denkmal und liest an dessen Sockel Namen und einige Werktitel ab. Damit ist das Denkmal eine Erinnerung an anno dazumal. Weniger lange ist es her, dass man dazu überging, nur noch den markanten Kopf eines Dichters auf einen Sockel zu stellen um damit den geistigen Gehalt einer Figur hervorzuheben.

Wie offen man heute selbst an ein so einschränkendes Thema gehen kann, hat der Hofer Wettbewerb gezeigt. Mit den mehr als 60 Einsendungen wurde eine imposante Skala von Inter-pretationsmöglichkeiten, die wir heute zur Verfügung haben, vorgestellt. Von der Realistik, wenigstens im Detail, über Konzeptionelles bis zum Konstruktiv-Konkreten – ja sogar etwas Humoristisches war dabei – reichte die Auswahl und spiegelte die Freude an der Auseinandersetzung mit Mensch und Thema Wirth. Es musste bei der Wahl vor allem darum gehen, wie ein Künstler den gegebenen Vorwurf definierte und wie er seine Idee zum sichtbaren Ereignis zu machen gedachte. Wie aber definiert man die Arbeit, das Wesen, den Geist von Dr. Wirth? Vorkämpfer für gesetzliche Freiheit und deutsche Nationalwürde. ? Ja ! Freiheit dem Wort und der Demokratie? Ja – das sind Begriffe einer nicht-ästhetischen Funktion. Sie müssen übersetzt werden in Darstellbarkeit, in ein visuelles, ja eventuell haptisches Medium. Die Juroren, die einfühlend mitdenken und urteilen müssen, hatten wie die Künstler die Frage der Definition und der Imagination gleicherweise zu beantworten.

Das war ausschlaggebend für die Wahl des Entwurfs von Andreas Theurer. Denn es heißt in der Begründung seiner Wahl unter anderem: das Thema sei erkennbar. Ein ganz wichtiger Satz. Denn gerade daran scheitern oft hochkarätige Künstler und hervorragend ästhetische Werke. Ich darf kurz einfügen, dass ich zum Beispiel an das Georg Büchner-Denkmal von Max Bill, mich erinnere, das jedermann für eine wunderbare Skulptur hält. Allein sie ist nicht nur für Büchner gut, sondern für jeden, der einen weißen Marmorkubus als geistige Aussage umgeben von einer dunklen amorphen Gesteinsmasse verdient.
Es sind deren Viele. Oder das herrliche begehbare Denkmal des Wettbewerbs für den unbekannten politischen Gefangenen, des größten internationalen Wettbewerbs der ersten Nachkriegsjahre. Wer damals, man muss es eingestehen, ein bisschen Stacheldraht und Gefängnis antönte, war besser als wer die Ausweglosigkeit des Menschen platonisch-konstruktiv verallgemeinerte.

In Hof haben wir nun eine denkbar gute Lösung. Ich nannte sie im stillen Brüten genial. Der Künstler Andreas Theurer hat den Bezug zu Wirth überzeugend definiert. Ja, er hat alles, was wir uns unter Wirth vorstellen auf den einen Punkt gebracht , den wir in der Gründung und zum Wiederaufflackern im Todesjahr in der „Deutschen Tribüne“ erkennen. Auch für den Nichthistoriker ist das Auftreten dieses Begriffs „Deutsche Tribüne“ ungemein vordringlich und markant. Darauf kann man sich einigen.
Wie aber sollte diese Zeitschrift realistische Formen annehmen, ohne Imitation und historisches Requisit zu werden, ein anno dazumal? Eine weitere Filtration führte zur Schrift, zum Schriftsatz als Bindeglied zum Schriftsteller Wirth. Wie aber präsentiert man Schrift, Sätze, Wörter in der Öffentlichkeit? Hinzu kam der Ort, der kleine Platz. Das ist günstig für die Demokratie, besser als das halbheimliche Versteck in einem Park, besser als die Feierlichkeit auf einem Hügel. Denn immer wo öffentliche Räume Menschen einweisen, findet man am Schluss einen Platz. Der Platz konzentriert, mag seine Umgebung noch so disparat sein. So kommt alles zusammen: die Tribüne in Form einer Tribüne passt auf einen Platz, der auf den Schriftsatz konzentriert und das begehbare Material, den Pflasterstein liefert. Doch die schwierigste Frage ist wohl die Erinnerung an das Wort und seine Gestaltung. Bedenkenswert ist, dass es auch in seiner symbolischen Form nicht mit Füßen getreten werden soll. Ein lesbarer Text würde auf die Jahre vor und um 1848 verweisen, also zu Geschichte werden. Theurer will etwas anderes „rüberbringen“. Er lässt nur den Titel „Deutsche Tribüne“ stehen, aber so, dass auch er der Geschichte entzogen scheint. Es fehlt das „D“ von Deutsch. Es ist eben ein Blatt der Immerzeit. Damit das alles ganz stimmt und kein realistischer Auszug aus der Tribüne unter die Füße kommt, ist das große Blatt wie von einer Welle bewegt und die Schrift auf der Welle ist Schrift der Immerzeit; es sind nur Bildpunkte. Bewegte Schrift, bewegte Schreibe ist ein schönes Denkmal und, wie ich meine, sehr in der Nähe von Wirths Leben und bewegenden Kämpfen.

So kann Kunst, wenn sie ihren Auftrag und sich selbst genau definiert, die Geste in der Gesellschaft wagen. Es wird dieses Blatt zu einer, wie Theurer das treffend formuliert, schwebenden Kraft und dank seiner klugen Gestaltung zu einer Erhebung von Unten. Näheres wird in nobler Weise und erleuchtet von einer Lampe, die zum Platz gehört, nebenan erzählt. Die ästhetische Funktion ist erfüllt – zu hoffen ist jetzt, dass nicht stattfindet, was der Eingangs erwähnte Philosoph vorbrachte, dass was zur Kunst zähle, eine kunstimmanente Frage sei – nein, die Bevölkerung sollte jetzt Besitz ergreifen von Wirth, von der Tribüne und die mitteilende Funktion, welche die Funktion der „Deutschen Tribüne“ war, die Oberhand über die ästhetische Funktion gewinnen lassen. Was in Hof geschehen ist, die Art und Weise wie Geschichte sich mit Gewinn für die Kunst und die Öffentlichkeit thematisieren lässt, darf Vorbildcharakter beanspruchen.

Prof. Eugen Gomringer
(* 20. Januar 1925 in Cachuela Esperanza, Bolivien)
gilt als Vater der Konkreten Poesie, arbeitete als Sekretär von Max Bill an der HfG Ulm, war Leiter des Schweizerischen Werkbundes und lehrte Theorie der Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf.

Michael Pohly and John Robert Kelly . 2003

Perspektiven – ein Workshop und zwei Ausstellungen an der Faculty of Fine Arts der Kabul University

Die Ausstellung von Andreas Theurer (Auszug)

„Hat dieses vom Krieg verwüstete Land nicht andere Dinge viel nötiger als Kunst?”, fragte der deutsche Bildhauer Andreas Theurer, als ich ihm vorschlug, eine Ausstellung seiner Werke und einen Workshop an der Fakultät der Schönen Künste in Kabul durchzuführen. “Nein”, erwiderte ich und schilderte die Begeisterung und das Leuchten in den Augen der Angehörigen der Fakultät der Schönen Künste, als ich ihnen mein Projekt vorgestellt hatte. Ein Dialog sollte begonnen werden, wie er in diesem vergessenen Teil der Welt über Jahre nicht hatte stattfinden können: in einem Land, in dem seit Jahrzehnten Gesetz und Ordnung außer Kraft gesetzt sind, in dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Waffe in der Hand ausgetragen werden – in einem Land in dem es keinen Platz gibt für zivile oder kulturelle Interessen und das durch eine alles bestimmende „Islamisierung” dominiert wird.

Diese gewaltsame Veruntreuung einer ehemals stolzen, toleranten Religion – auch eines stolzen Landes – ist das traurige und beängstigende Erbe von jahrzehntelanger, mörderischer Herrschaft der Mudjahidin, verkündet durch den Djihad, wodurch diese ihre Anhänger vereinigten und zu einem feurigen Höhepunkt anfachten um sich dem Einmarsch durch „gottlose“ Sowjets, wie sie von den afghanischen religiösen Fanatikern bezeichnet wurden, entgegenzustellen.

Um dem Petersberger Abkommen vom Dezember 2001 eine Chance zu geben, ist es notwendig, den zivilen Sektor in demselben Maß wie die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau zu stärken. Die Ausstellung eines Künstlers aus einem fernen Land wie Deutschland könnte die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft unterstützen. Der Wiederaufbau der Infrastruktur Afghanistans muss sich mit mehr als nur der Renovierung der äußeren Hülle ihrer zerstörten Gebäude befassen, er muss auch die Institutionen selbst inhaltlich erneuern. Ziegel und Mörtel beschreiben nur das Umfeld – das Leben innerhalb dieser Wände definiert das Potential einer zivilen Gesellschaft. Im Inneren der wiedereröffneten Räume der Kunstfakultät schlummert die pulsierende Kraft eines lebendigen, dynamischen Austausches von Ideen und Bildern: dies ist das Ziel der Kunst.

Die Absicht der Werkschau und des Workshop mit dem Titel “Perspektiven” sollte der Beginn eines Dialogs mit afghanischen Künstlern und der Bevölkerung sein. Fremdartige Skulpturen und Bilder sollten zur Diskussion über künstlerische Positionen veranlassen und die Auseinandersetzung mit kulturellen und individuellen Hintergründen und zukünftigen Möglichkeiten vorantreiben. Bewusst wurde ein Künstler – Andreas Theurer – gewählt, dessen Werke weder plakativ noch figürlich sind, der aber erfahren ist im Umgang mit der Aufarbeitung historischer Momente. Sein Denkmal zu Ehren des Advokaten Wirth, der mit anderen 1832 eine Versammlung an der Burgruine Hambach einberief, zu der über 30000 Menschen zusammenkamen und dort kräftig gegen die „Fürstenknechtschaft und Reaktion“ gewettert hatten und in Vivats auf die „vereinigten Freistaaten Deutschlands“ und das „konföderierte republikanische Europa“ ausbrachen, steht exemplarisch dafür. Nicht nur die Art und Weise der Umsetzung, nein auch die Parallelen zu Afghanistan mit seinen „Warlords“, mangelnder Einheit und kaum vorhandenen Bürgerrechten, geben Raum für Assoziationen, die das „Hambacher Fest“ mit dem Petersberger Abkommen als ein Fanal für eine gerechtere Zukunft in eine Linie stellen.

Bereits am Tage der Vernissage sahen über 500 Besucher die Ausstellung. Staunend und manchmal ehrfürchtig, begegneten sie den mitgebrachten Exponaten, die auf den frisch geweißten Gängen des Fakultätsgebäudes präsentierte wurden: etwa dreißig, teils monumentale Skulpturen aus Stein, Bronze und Holz, Kuben und geometrische Formen in verzerrter Perspektive, Figurationen, die vielleicht noch entfernt an die menschliche Gestalt erinnern. Ungläubig von dem Dargebotenen bestürmten vor allem die jungen Studenten den deutschen Bildhauer und seinen Assistenten und suchten das Gespräch mit ihnen. Oder war es Ratlosigkeit, weil nach dem langen Bilderverbot vielleicht doch eher eine Sehnsucht nach figürlicher Kunst vorherrschte? Die Herausforderung war enorm und erforderte viel Kraft und gegenseitige Toleranz.

Ohne Zweifel, Andreas Theurers formale Komplexität und seine rigorose Dekonstruktion von Form im eigentlichen Sinne stellte eine radikale Abkehr von jenen Erfahrungen einer eher narrativen Figürlichkeit seiner Hörerschaft dar. Seine Leichtigkeit und Vertrautheit im Umgang mit dem Material ist bei den kleineren Arbeiten differenziert, komprimiert und destilliert zur Essenz einer Idee, während seine Hand bei anderen Skulpturen episch abstrakt und doch metaphorisch ist, grob aus dem Leben selbst gerissen, aber provokativ konkret. Sein Werk schien die jungen Betrachter gleichermaßen zu verwirren und zu hypnotisieren. Dies war ihr erster flüchtiger Blick auf etwas, das wohl als „dekadente“ westliche Kunst bezeichnet wurde, insbesondere im Vergleich zur Ausdrucksweise des „sozialistischen Realismus“ und einige schienen völlig ihre Fassung verloren zu haben, indem sie nach einem neuen ästhetischen Vokabular zur Beschreibung dieser oft fremdartigen Erfahrungen suchten. Andreas Theurers Abkehr von Normen der konventionellen abstrakten Kunst wurde in seinen kleinformatigen Bronzeplastiken deutlich, die vertraute Ansichten antiker Tempel und Kultstätten wachriefen, passend zu den Vorstellungen der afghanischen Kunststudenten von Moscheen mit Pilastern oder Bildern aus Kunstlehrbüchern der griechischen und römischen Architektur. Die Bewegung der kräftigen, afghanischen Sonne erfüllte die Galerie indem sie die Lichtbündel akzentuierte, die jene kleinen Metallgebilde durchströmten, welche auf groben, weißen Ziegelsäulen hoch aufgestellt waren um die Strahlen einzufangen und in sonderbaren Winkeln durch den Korridor zu streuen. Zweifellos müssen jegliche Bedenken, die Andreas Theurer über die Wirksamkeit oder einfach über die schiere Unwahrscheinlichkeit einer Ausstellung seiner Arbeiten in dem entlegenen Kabul empfunden haben muss, in dem Moment zu einer Offenbarung dahingeschmolzen sein, als sich Kinder wie Erwachsene begierig und freudig seiner neuen Vision völlig hingaben. Die Menge bewegte sich ungeduldig von einer Arbeit zur anderen in der Hoffnung, die sich wandelnden Lichtwellen aufzufangen, während sich ihre Augen auf seine winzigen, schwebenden Tempel konzentrierten, die in der Hitze der Fenster glühten.

Die größeren Werke, monumental in Format und Form, waren an den Kreuzungen der Korridore aufgestellt und erschienen manchmal als stumme Wächter, die den Verkehr durch die Galerie lenkten. Man spürte ganz offensichtlich das reliquienhafte an diesen Gargantuas, so als ob die Gestalten grob geschnitzt und vom Künstler rau belassen worden sind, um den Verschleiß durch die Zeit oder das Altern durch zahllose Generationen von Händen, die ein überliefertes oder öffentliches Totem berühren, zu simulieren. Formlos kopflos, handlos, ausdruckslos – oder nur mit geringen Andeutungen davon – konnte man nicht umhin, sie im Kontext dieser Zeiten in Afghanistan, als Vorwurf und als Aide-memoire für die gefallenen Buddhastatuen zu sehen, an die Theurers Skulpturen erinnern könnten. Es waren diese geisterhaft verhüllten, uns verfolgenden Figuren die, besonders wenn sie in abgeschiedenen Fluren einzeln aufgestellt waren, die beeindruckendste Wirkung erzielten.

Diese Hüter, oft in fensterlose Gänge gestellt, einige spärlich beleuchtet durch grünliches Licht alter Leuchtstofflampen, schienen urzeitliche Patrouillen der Unterwelt zu sein, Entkommene aus einem expressionistischen UFA-Stummfilm von F.W. Murnau oder Fritz Lang. Die Wahrnehmung dieser Figuren balanciert zwischen Figürlichem und Abstraktem und gestattet dem Betrachter, die semantische Komplexität der Skulpturen zu vervollständigen. Bei allem Eklektizismus von Ausstellungsstücken, wie den zerklüfteten, differenzierten Statuetten auf Sockeln in den hellen, engen Hallen und den eher traditionell gerahmten Drucken, geht der stärkste Eindruck von diesen riesigen, bedrohlichen und doch einladenden Skulpturen in jenen langen Korridoren aus. Sie waren das sine qua non der ausgestellten Werke. Fest steht, diese selbstsichere Mannigfaltigkeit von Größe, Form, Gegenstand, Maßstab und Material zeigt die Tiefe von Andreas Theurers Talent und weist darauf hin, dass er sein Publikum herausfordern wollte. Dies war in jeder Hinsicht eine Schau von bemerkenswerter Gewichtigkeit und Autorität – und Passion.

Auszug aus: Katalog „Perspectives“
Idee und Konzept: Michael Pohly
Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung
Verfasser: John Robert Kelly, Michael Pohly
Übersetzung: John Robert Kelly, Jacob Jan Scholtz

Dr. Dr. Michael Pohly
(* 27.02.1956 in Burgsinn)
ist ein deutscher Arzt und Ethnologe, Islamforscher und Afghanistan-Experte von der Freien Universität Berlin. Er arbeitete unter anderem für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul und lebt heute in der Schweiz.

Prof. Dr. John Robert Kell
st ein amerikanischer Filmemacher. Er lehrt an der Boston University of Southern California, ist Mitglied der Vereinigung Afghanischer Künstler und Leitender Wissenschaftler für Film am Zentrum für Internationalen Journalismus in Kabul.

Werner Stötzer . 1993

Die Kenntniss über die Arbeit des Andreas Theurer führte zu dem Wunsch einer persönlichen Begegnung mit ihm. Für mich, den Älteren, war das ein Gewinn. Der Begegnung folgte durch Neugierde ein Kennenlernen von Theurers Werk.

Auffallend war für mich, das sein Formbilden aus einer geistig-sinnlichen Betrachtung der Natur und durch Erfahrung bei der Arbeit erworben wurde. Seine Entwicklung basiert auf einem handwerklichen Können, ich kann das beurteilen, er ist nicht stolz darauf, aber er hat seine Bildhauerei darauf gegründet. Er fand dabei Maßstäbe, die das Gewicht zweier Jahrtausende für sich haben.

Es gibt bei ihm keine erdachten Theorien, es ist vielmehr die unumgängliche Suche nach dem uralten Zusammenhang zwischen Stoff und Form. In einer Zeit, da alles und auch nichts zur Kunst erklärt werden kann, schlägt er seine Skulpturen aus dem Stein, wissend um die Dauer der Arbeit. Will sagen, nicht für einen Apell, nicht für den Tag und schon gar nicht für eine Mode.

Es entsteht ein Arbeitsbild, kein Seinsbild. In diesem Arbeitsbild erscheinen nun seine Skulpturen – sie weisen sich aus durch ein Zusammengehen von bruchstückartiger Vereinzelung und schöner Ausformung der Bruchstücke zur Harmonie eines Ganzen. Bei den besten Stücken gebiert der Arbeitsprozess am Ende die Frische des Anfangs.

Prof. Werner Stötzer
(* 2. April 1931 in Sonneberg; † 22. Juli 2010 in Altlangsow)
war ein deutscher Bildhauer und Zeichner. Seit 1978 war er Mitglied der Akademie der Künste der DDR und der späteren Akademie der Künste, Berlin.

Fritz Jacobi . 1992

Körperflächen als Raumzeichen

Zu neueren Skulpturen von Andreas Theurer

Es ist interessant zu sehen, wie sich in den letzten Jahren der bildhauerische Ausdruck von Andreas Theurer gewandelt hat. Im Zuge dieses Wandlungsprozesses, den man fast als Einschnitt in seiner künstlerischen Entwicklung bezeichnen kann, ist wohl die prinzipielle Bindung an die menschliche Figur nicht aufgegeben worden – auch wenn die Abstraktion zunehmend in die Gestaltfindung hineindrängt -, aber die Haltung zu ihr hat doch eine wesentliche Veränderung erfahren.

Wenn man diesen Vorgang in wenigen Worten zusammenfasst, so lässt sich sagen: Andreas Theurer ist von einer körperbetonten, ganz auf das leibliche Volumen gerichteten Form zu einer statuarischen, stärker in die Fläche gespannten Körperlichkeit gelangt, bei der eine spröde, meist aufgerissene und nervige Außenhaut die glatte, gerundete und den plastischen Kern überziehende Oberfläche der früheren Arbeiten abgelöst hat. Bis in die späten achtziger Jahre hinein, bis zu seinem Wechsel von Braunschweig nach Berlin, dominierte in seinem Schaffen die massive, schwere und häufig von einer inneren Dramatik erfüllte Figur, zu der Theurer nicht zuletzt unter dem Einfluss seines Stuttgarter Lehrers Alfred Hrdlicka gefunden hatte und die er in einer durchaus verknappenden Form kubisch zusammenzog, um die enorme innere Spannung eines Körpers nach außen sichtbar zu machen. Die geballte Kraft des Physischen drückt sich in diesen meist gedrungenen Leibern dem Betrachter entgegen; eine zuweilen fast barocke Bewegungsenergie zeugt von den vitalen Intentionen des jungen Künstlers. Wenngleich hier Anregungen von Bildhauern wie Giuliano Vangi, Waldemar Grzimek oder Jürgen Weber eingeflossen sind, so ist das Streben von Theurer nach einer eigenen, der blockhaften Archaik angenäherten oder auch einer grazilen Formenrealistik zugewandten Ausdrucksform deutlich zu spüren.

Man gewinnt aufgrund der Arbeiten aus den letzten Jahren den Eindruck, dass Andreas Theurer zunehmend zu sich selbst gefunden hat und nun im Begriff ist, die ihm gemäße künstlerische Sprache konsequent auszuformen und zu entwickeln. Die neuen Skulpturen haben eine Frische und Unmittelbarkeit, die in diesem Maße bisher nicht dagewesen ist. Die feste, zuweilen einzwängende Hülle ist abgeworfen worden; seine Gestaltbildungen zeigen sich nun in einer narbigen, gebrochenen und eigenwillig rhythmisierten Form. Die Spuren des Werdens bleiben sichtbar und deuten damit zugleich auf die Vergänglichkeit hin, die sie zu eigenartigen Markierungen des Vorübergehenden macht. Da, wo vormals die Eindeutigkeit des Körperlichen den Raum verdrängte, stehen nun schmalgliedrige, blattartig ausgebreitete Formen, die den Raum aufnehmen oder in ihn hineinstoßen, sich mit ihm verbinden. Die fragile Gefährdung, durch torsierte und fragmentarisch belassene Formstrukturen auf den Plan gerufen, prägt nun die Figurationen von Andreas Theurer.

Seine Plastiken und Skulpturen – vor allem der Sandstein spielt jetzt eine beherrschende Rolle bei den von ihm verwendeten Materialien – sind Gestaltzeichen geworden, die noch auf den menschlichen Körper hindeuten, ihn zugleich aber „verschleiern“, aufbrechen, segmentieren oder ihn in abstrahierte Formgefüge einbinden. Die Körper wirken zum Teil wie entmaterialisiert, wie schattenhafte Verschwebungen, die sich einem stabilen Standort zu entziehen und wie schemenhafte Figurinen vorüberzugleiten scheinen. Ihre Deutbarkeit erwächst vor allem aus dem Kontur, der die oft flache und nach den Seiten hin ausgreifenden Formzonen hält und gratartig begrenzt. Die Binnenformen selbst entwickeln sich wie karge Landschaften, die – von Kerbungen durchzogen – behutsam gesetzte Erhöhungen und Vertiefungen in sich vereinen. Felsartige Verkrustungen wechseln mit harten Einschnitten; ausgespannte, fast gleichbleibende Flächenpartien kontrastieren mit blockhaften Durchbrüchen oder Vorstößen, häufig begleitet von farbig aufgetragenen Liniengerüsten, die das Netz der Verzweigungen unmerklich auf anderer Ebene weiterführen.

Die große Form des Blockes, vielfach in die aufstrebende Form der Stele hineingeführt, und die empfindsam geschichtete Struktur der „Außenwandung“ ergänzen sich zu einer stillen, fast versonnenen Erscheinung, die zugleich eine eigenartig bewegte, gleichsam vibrierende Ausstrahlung vermittelt. Diesen Skulpturen ist ein Moment der Meditation eigen. Die Kräfte werden wohl gesammelt, gebündelt, gerichtet, aber andererseits wird kaum ein fester Anhaltspunkt gewährt und immer wieder die Ganzheitlichkeit des Formgefüges vor Augen geführt. Nur selten ist die Mitte, das Zentrum betont: vielmehr verteilen sich die plastischen Ströme feld- und gewächsartig über die oft reliefhaft ausgedehnten Körperflächen.

So liegt es nahe, dass für Andreas Theurer das Wechselspiel der Formen eine wesentliche Bedeutung erhält. Am deutlichsten wird diese Beziehung in den Zweifigurengruppen wie dem „Dialog“, einer feinfühlig gestalteten Paarung zweier fast lebensgroßer Körper, bei der die Gegenüberstellung der beiden aufgerichteten Figuren zugleich ein Nebeneinanderstehen ist, was zu einer vergleichenden Betrachtung auffordert und den Blick hin- und herwandern lässt. Aber auch die Einzelfiguren tragen dieses potentielle Hinüber- und Herübergleiten des Blickes in sich. Die gegensätzlichen Betonungen sind meist in die Seiten hineinverlagert und bilden von daher das Spannungsgerüst, das den Betrachtungswechsel animiert. Bei Arbeiten wie dem „Tanz“, dem „Magischen Quadrat“, der „Kleinen Illusion“ oder der „Tisch-Dame“ ist das deutlich zu beobachten, aber auch Skulpturen wie die sorgsam aufbereitete „Balance“ – auch hier deutet der Titel schon auf eine solche Wertigkeit hin – und der größte Teil der neueren Werke sind in eine solche Polarisierung eingebunden.

Andreas Theurer hat in der herben Berliner Atmosphäre und sicherlich auch durch Anregungen seiner Bildhauerkollegin Azade Köker zu einer eigenen sensiblen Gestaltung gefunden, in der sich das Moment einer archaischen Zurückhaltung mit einer wohltuenden Klarheit vereint. Man fühlt hier wirklich empfundene Reibungen am Sinn und Sein des Lebens, Begegnungen vor allem mit der menschlichen Existenz in ihrer Verflechtung mit ihrem Umraum und dessen Dimensionen. Es ist ein sehr intensives Nachspüren, das sich in seinem Werk vollzieht. Das Ertasten des Leiblichen, das bis zu einem gewissen Grade aus seiner eigentlichen Mitte herausgenommen, in ein unaufhaltsames Wechselspiel der Kräfte hineingestellt wurde und sich mehr und mehr in einem alles durchdringenden Rhythmus von Zeit zu behaupten hat, ist bei Andreas Theurer zur hauptsächlichen Gestaltungsintuition geworden. Er befindet sich auf dem Wege; seine in den letzten Jahren entstandenen Werk-Zeugnisse sind von einer nachhaltig berührenden Wirkungskraft. Verharrung und Bewegung vereinen sich in Figurationen, die Aufbruch und Ausklang gleichermaßen in sich tragen.

Katalog „Theurer“, Bildhauergalerie Messer-Ladwig, Berlin, 1992

Dr. Fritz Jacobi
(* 23. April 1944 in Dresden)
ist Kunsthistoriker in Berlin, Kustos an der Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen zu Berlin a. D.