Michael Pohly and John Robert Kelly . 2003
Perspektiven – ein Workshop und zwei Ausstellungen an der Faculty of Fine Arts der Kabul University
Die Ausstellung von Andreas Theurer (Auszug)
„Hat dieses vom Krieg verwüstete Land nicht andere Dinge viel nötiger als Kunst?”, fragte der deutsche Bildhauer Andreas Theurer, als ich ihm vorschlug, eine Ausstellung seiner Werke und einen Workshop an der Fakultät der Schönen Künste in Kabul durchzuführen. “Nein”, erwiderte ich und schilderte die Begeisterung und das Leuchten in den Augen der Angehörigen der Fakultät der Schönen Künste, als ich ihnen mein Projekt vorgestellt hatte. Ein Dialog sollte begonnen werden, wie er in diesem vergessenen Teil der Welt über Jahre nicht hatte stattfinden können: in einem Land, in dem seit Jahrzehnten Gesetz und Ordnung außer Kraft gesetzt sind, in dem gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Waffe in der Hand ausgetragen werden – in einem Land in dem es keinen Platz gibt für zivile oder kulturelle Interessen und das durch eine alles bestimmende „Islamisierung” dominiert wird.
Diese gewaltsame Veruntreuung einer ehemals stolzen, toleranten Religion – auch eines stolzen Landes – ist das traurige und beängstigende Erbe von jahrzehntelanger, mörderischer Herrschaft der Mudjahidin, verkündet durch den Djihad, wodurch diese ihre Anhänger vereinigten und zu einem feurigen Höhepunkt anfachten um sich dem Einmarsch durch „gottlose“ Sowjets, wie sie von den afghanischen religiösen Fanatikern bezeichnet wurden, entgegenzustellen.
Um dem Petersberger Abkommen vom Dezember 2001 eine Chance zu geben, ist es notwendig, den zivilen Sektor in demselben Maß wie die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau zu stärken. Die Ausstellung eines Künstlers aus einem fernen Land wie Deutschland könnte die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft unterstützen. Der Wiederaufbau der Infrastruktur Afghanistans muss sich mit mehr als nur der Renovierung der äußeren Hülle ihrer zerstörten Gebäude befassen, er muss auch die Institutionen selbst inhaltlich erneuern. Ziegel und Mörtel beschreiben nur das Umfeld – das Leben innerhalb dieser Wände definiert das Potential einer zivilen Gesellschaft. Im Inneren der wiedereröffneten Räume der Kunstfakultät schlummert die pulsierende Kraft eines lebendigen, dynamischen Austausches von Ideen und Bildern: dies ist das Ziel der Kunst.
Die Absicht der Werkschau und des Workshop mit dem Titel “Perspektiven” sollte der Beginn eines Dialogs mit afghanischen Künstlern und der Bevölkerung sein. Fremdartige Skulpturen und Bilder sollten zur Diskussion über künstlerische Positionen veranlassen und die Auseinandersetzung mit kulturellen und individuellen Hintergründen und zukünftigen Möglichkeiten vorantreiben. Bewusst wurde ein Künstler – Andreas Theurer – gewählt, dessen Werke weder plakativ noch figürlich sind, der aber erfahren ist im Umgang mit der Aufarbeitung historischer Momente. Sein Denkmal zu Ehren des Advokaten Wirth, der mit anderen 1832 eine Versammlung an der Burgruine Hambach einberief, zu der über 30000 Menschen zusammenkamen und dort kräftig gegen die „Fürstenknechtschaft und Reaktion“ gewettert hatten und in Vivats auf die „vereinigten Freistaaten Deutschlands“ und das „konföderierte republikanische Europa“ ausbrachen, steht exemplarisch dafür. Nicht nur die Art und Weise der Umsetzung, nein auch die Parallelen zu Afghanistan mit seinen „Warlords“, mangelnder Einheit und kaum vorhandenen Bürgerrechten, geben Raum für Assoziationen, die das „Hambacher Fest“ mit dem Petersberger Abkommen als ein Fanal für eine gerechtere Zukunft in eine Linie stellen.
Bereits am Tage der Vernissage sahen über 500 Besucher die Ausstellung. Staunend und manchmal ehrfürchtig, begegneten sie den mitgebrachten Exponaten, die auf den frisch geweißten Gängen des Fakultätsgebäudes präsentierte wurden: etwa dreißig, teils monumentale Skulpturen aus Stein, Bronze und Holz, Kuben und geometrische Formen in verzerrter Perspektive, Figurationen, die vielleicht noch entfernt an die menschliche Gestalt erinnern. Ungläubig von dem Dargebotenen bestürmten vor allem die jungen Studenten den deutschen Bildhauer und seinen Assistenten und suchten das Gespräch mit ihnen. Oder war es Ratlosigkeit, weil nach dem langen Bilderverbot vielleicht doch eher eine Sehnsucht nach figürlicher Kunst vorherrschte? Die Herausforderung war enorm und erforderte viel Kraft und gegenseitige Toleranz.
Ohne Zweifel, Andreas Theurers formale Komplexität und seine rigorose Dekonstruktion von Form im eigentlichen Sinne stellte eine radikale Abkehr von jenen Erfahrungen einer eher narrativen Figürlichkeit seiner Hörerschaft dar. Seine Leichtigkeit und Vertrautheit im Umgang mit dem Material ist bei den kleineren Arbeiten differenziert, komprimiert und destilliert zur Essenz einer Idee, während seine Hand bei anderen Skulpturen episch abstrakt und doch metaphorisch ist, grob aus dem Leben selbst gerissen, aber provokativ konkret. Sein Werk schien die jungen Betrachter gleichermaßen zu verwirren und zu hypnotisieren. Dies war ihr erster flüchtiger Blick auf etwas, das wohl als „dekadente“ westliche Kunst bezeichnet wurde, insbesondere im Vergleich zur Ausdrucksweise des „sozialistischen Realismus“ und einige schienen völlig ihre Fassung verloren zu haben, indem sie nach einem neuen ästhetischen Vokabular zur Beschreibung dieser oft fremdartigen Erfahrungen suchten. Andreas Theurers Abkehr von Normen der konventionellen abstrakten Kunst wurde in seinen kleinformatigen Bronzeplastiken deutlich, die vertraute Ansichten antiker Tempel und Kultstätten wachriefen, passend zu den Vorstellungen der afghanischen Kunststudenten von Moscheen mit Pilastern oder Bildern aus Kunstlehrbüchern der griechischen und römischen Architektur. Die Bewegung der kräftigen, afghanischen Sonne erfüllte die Galerie indem sie die Lichtbündel akzentuierte, die jene kleinen Metallgebilde durchströmten, welche auf groben, weißen Ziegelsäulen hoch aufgestellt waren um die Strahlen einzufangen und in sonderbaren Winkeln durch den Korridor zu streuen. Zweifellos müssen jegliche Bedenken, die Andreas Theurer über die Wirksamkeit oder einfach über die schiere Unwahrscheinlichkeit einer Ausstellung seiner Arbeiten in dem entlegenen Kabul empfunden haben muss, in dem Moment zu einer Offenbarung dahingeschmolzen sein, als sich Kinder wie Erwachsene begierig und freudig seiner neuen Vision völlig hingaben. Die Menge bewegte sich ungeduldig von einer Arbeit zur anderen in der Hoffnung, die sich wandelnden Lichtwellen aufzufangen, während sich ihre Augen auf seine winzigen, schwebenden Tempel konzentrierten, die in der Hitze der Fenster glühten.
Die größeren Werke, monumental in Format und Form, waren an den Kreuzungen der Korridore aufgestellt und erschienen manchmal als stumme Wächter, die den Verkehr durch die Galerie lenkten. Man spürte ganz offensichtlich das reliquienhafte an diesen Gargantuas, so als ob die Gestalten grob geschnitzt und vom Künstler rau belassen worden sind, um den Verschleiß durch die Zeit oder das Altern durch zahllose Generationen von Händen, die ein überliefertes oder öffentliches Totem berühren, zu simulieren. Formlos kopflos, handlos, ausdruckslos – oder nur mit geringen Andeutungen davon – konnte man nicht umhin, sie im Kontext dieser Zeiten in Afghanistan, als Vorwurf und als Aide-memoire für die gefallenen Buddhastatuen zu sehen, an die Theurers Skulpturen erinnern könnten. Es waren diese geisterhaft verhüllten, uns verfolgenden Figuren die, besonders wenn sie in abgeschiedenen Fluren einzeln aufgestellt waren, die beeindruckendste Wirkung erzielten.
Diese Hüter, oft in fensterlose Gänge gestellt, einige spärlich beleuchtet durch grünliches Licht alter Leuchtstofflampen, schienen urzeitliche Patrouillen der Unterwelt zu sein, Entkommene aus einem expressionistischen UFA-Stummfilm von F.W. Murnau oder Fritz Lang. Die Wahrnehmung dieser Figuren balanciert zwischen Figürlichem und Abstraktem und gestattet dem Betrachter, die semantische Komplexität der Skulpturen zu vervollständigen. Bei allem Eklektizismus von Ausstellungsstücken, wie den zerklüfteten, differenzierten Statuetten auf Sockeln in den hellen, engen Hallen und den eher traditionell gerahmten Drucken, geht der stärkste Eindruck von diesen riesigen, bedrohlichen und doch einladenden Skulpturen in jenen langen Korridoren aus. Sie waren das sine qua non der ausgestellten Werke. Fest steht, diese selbstsichere Mannigfaltigkeit von Größe, Form, Gegenstand, Maßstab und Material zeigt die Tiefe von Andreas Theurers Talent und weist darauf hin, dass er sein Publikum herausfordern wollte. Dies war in jeder Hinsicht eine Schau von bemerkenswerter Gewichtigkeit und Autorität – und Passion.
Auszug aus: Katalog „Perspectives“
Idee und Konzept: Michael Pohly
Herausgeber: Friedrich-Ebert-Stiftung
Verfasser: John Robert Kelly, Michael Pohly
Übersetzung: John Robert Kelly, Jacob Jan Scholtz
Dr. Dr. Michael Pohly
(* 27.02.1956 in Burgsinn)
ist ein deutscher Arzt und Ethnologe, Islamforscher und Afghanistan-Experte von der Freien Universität Berlin. Er arbeitete unter anderem für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul und lebt heute in der Schweiz.
Prof. Dr. John Robert Kell
st ein amerikanischer Filmemacher. Er lehrt an der Boston University of Southern California, ist Mitglied der Vereinigung Afghanischer Künstler und Leitender Wissenschaftler für Film am Zentrum für Internationalen Journalismus in Kabul.