Antje Lechleiter . 2018
zur Eröffnung der Ausstellung „Positionen im Raum“ in der städtischen Galerie im Alten Rathaus in Lahr
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen. (…) Jede Skulptur, die vom Raum ausgeht als existiere er, ist falsch, es gibt nur die Illusion des Raumes“, hält Alberto Giacometti 1949 in seinen Notizen fest. Diesen Satz würde Andreas Theurer, der heute mit seinen Werken in der Städtischen Galerie zu Gast ist, zu 100 Prozent unterschreiben. Denn durch ihre Vielzahl an Perspektiven, ihre Öffnungen, Konturlinien und unruhigen Oberflächen kreieren seine Werke einen eigenen plastischen Raum und sie verändern damit auch den Ort, an dem sie sich befinden.
Sich selbst sieht Theurer als einen klassisch arbeitenden Bildhauer, doch durch die Eigenwilligkeit seiner Raumperspektiven, durch die Infragestellung von Raum und Zeit hat er zu einer eigenständigen und sofort wiedererkennbaren Formensprache gefunden.
Ein Meister des Körperlichen und der Leiblichkeit war einst sein Lehrer an der Kunstakademie in Stuttgart und Theurer war von den Skulpturen des Österreichers Alfred Hrdlickas begeistert. Doch dieser erkannte schnell die eigentliche Bestimmung seines Schülers und prophezeite ihm: „In Ihnen steckt ein Abstrakter“. Er hatte Recht und im Zuge seiner weiteren Entwicklung machte Andreas Theurer die Veränderung des Raumes durch einen permanenten Wechsel der Perspektive (im doppeldeutigen Sinne dieses Wortes) zu seinem zentralen bildnerischen Thema. Inzwischen spricht der Künstler konsequenterweise von seinen Werken als „Raum-Skulpturen“. Dieser Begriff ist sowohl für seine geometrisch-abstrakten als auch für die reduziert-figürlichen Arbeiten gültig. Denn ob seine architektonischen Körper oder die in sich ruhenden Statuen groß oder klein, schwer oder leicht sind, immer schaffen sie sich einen eigenen Raum und machen diesen durch ihr Da-sein erfahrbar. Theurer arbeitet bevorzugt mit reduzierten geometrischen, oftmals sehr architektonischen Formen, wir finden Würfel, Tore und geöffnete Räume, die wir mit den Augen betreten können. Damit ruht unsere Aufmerksamkeit im gleichen Maße auf dem Gestalteten wie auf dem Ungestalteten. Dazu passt, dass seine Arbeiten über klare Konturen verfügen und ihre Kanten wie Linien den Raum bezeichnen. Wir folgen ihnen in der Betrachtung und geraten dabei selbst in Bewegung, umkreisen die Skulptur, werden von immer neuen An- und Durchblicken, Auf- und Untersichten, vom lebendigen Spiel mit Licht und Schatten überrascht. Dieses tektonische Gerüst fügt sich weniger aus rechten als aus stumpfen und spitzten Winkeln, welche zu einer Verschiebung führen und damit die Sehgewohnheiten des Betrachters herausfordern. Unsere Vorstellung von Raum als etwas Statisches wird massiv Infrage gestellt und kippt, wankt in der Vielansichtigkeit der von Theurer vorgetragenen Perspektiven. Arbeiten wie „Raumparadox“ oder „Raumgrenzen“ aber auch die Bronzen „Der relative Raum“ und „Gehäuse“ spielen mit der Verschränkung und der Durchdringung von Innen und Außen und sie zeigen überdies, dass in jeder Flache auch die Information und die Möglichkeit für ein Vordringen in den Raum angelegt ist.
Theurer hat zunächst mit Stein und Holz, sowie mit Bronzeguss gearbeitet, doch die besondere Lichtsituation in einem seiner Ateliers und die Freude am Wechselspiel von Licht und Schatten, Fläche und räumlicher Tiefe führte ihn bei seiner Suche nach einem neuen Material schließlich zur Wellpappe. Alleine die Struktur ihrer Oberfläche kommt ihm mit ihrem fast barocken Wechsel von vor- und zurückspringenden Partien und dem dadurch hervorgerufenen Wechsel von Hell und Dunkel entgegen, doch er erweitert die hier angelegten Möglichkeiten durch zusätzliche Eingriffe. Der Künstler grundiert die Pappe um sie beständiger zu machen und betont ihre grafische Struktur durch den Auftrag von Acrylfarbe. Überdies überstreut er das Material partiell mit Sand, der sich in die Vertiefungen hineinsetzt und wiederum malerische Strukturen bildet. Das von der Art der Beleuchtung und der Bewegung des Betrachters abhängige, wechselvolle Spiel der Schatten auf den solchermaßen kontrastreich beschaffenen Oberflächen bringt nun eine weitere, durch die Kraft der Veränderbarkeit geprägte Ebene ins Bild. Mit dem Sand schwebt ein Hauch von Vergänglichkeit über diesen Werken und zum Thema „Raum“ tritt damit der Faktor „Zeit“. Diesen Aspekt möchte ich angesichts der ausgestellten Arbeit „Schattenwelt“ weiter verdeutlichen, die Sie ja auch auf der Einladungskarte finden. Die Abbildung zeigt überraschenderweise zwei Schlagschatten, und so fragt man sich, welcher von beiden wohl aus dem Stand der Sonne resultieren mag. Blickt man genauer hin, so erkennt man, dass der rechte Schatten im Laufe des Tages weiterwandern wird, während sich der linke aus schwarzem Sand fügt, also materiell vorhanden ist und in seiner Position verharren wird. Stillstand und Veränderung – Theurer setzt die reale Zeit außer Kraft und führt uns in eine „Schattenwelt“ – in einen brüchigen Raum der reinen Imagination.
Wir finden in der Ausstellung einige ältere Bronzen aus den 1990er Jahren, die zu einer Zeit entstanden sind, als der Künstler Wellpappe noch nicht als eigenständiges bildhauerisches Material benutzte. Zunächst setzte er die wellenförmige Oberfläche und die Variabilität ihrer Zuschnitte zwar für sein bildhauerisches Konzept ein, übertrug sie dann aber in den klassischen Bildhauerwerkstoff Bronze. Das Pathos von Bronze als traditionellem Material von Herrscherportraits, Standbildern und Denkmälern und damit als Inbegriff der Ewigkeit wird inzwischen von ihm ad absurdum geführt. Heute steht das provisorische und vergängliche Material Wellpappe den Arbeiten aus Stein, Holz und Bronze gleichberechtigt zur Seite und strahlt eine große Skepsis gegenüber der Dauerhaftigkeit und Geschlossenheit eines Kunstwerkes aus. Pappe könnte man daher als eine Metapher für die Unberechenbarkeit der Gesellschaft und Instabilität der Welt auffassen und damit befinden wir uns bereits im Bereich der Werkdeutung. Das mag erstaunen, denn indem der Künstler bevorzugt mit geometrisch abstrakten Formen arbeitet, könnte man sein Werk in die Nähe von konstruktiven Skulpturen rücken. Dies träfe allerdings nicht den Kern der Dinge, denn Theurers Geometrie betont keine Statik, sondern impliziert Aspekte wie Beweglichkeit, Mehrdeutigkeit und Veränderung und ist keineswegs von persönlichen Emotionen befreit. Über den Umgang mit Material und Form hinausgehend, wollen seine Skulpturen unseren Blick auf die Welt weiten. Durch Umkehrungen der Perspektive, durch diese „schrägen Raumkonzepte“, entsteht eine Bildwirklichkeit, die viele Wahrheiten in sich vereint und uns nach immer neuen Wahrheiten und neuen Perspektiven suchen lässt.
Dazu ein Zitat des Kunsthistorikers und Kurators Cetin Güzelhan: „Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.“
In unserem Vorgespräch habe ich den Künstler gefragt, wie sich die figürlicheren Werke in sein Raumkonzept fügen. Betrachten Sie im Hinblick darauf diese aus der Zeit herausgelösten, wächterhaften Gestaltungen oder die drei Bronzen „Verhüllt I-III“. Theurer meinte, dass seine räumlichen Verschiebungen nur bis zu einem gewissen Abstraktionsgrad möglich wären und er an jener Stelle nach neuen Ansatzpunkten suchen müsse, an der er keine lesbare Perspektive mehr zeigen könne. Hier kommen die figürlichen Arbeiten ins Spiel, geben sie ihm doch die Möglichkeit, dieses andere Raumverständnis wieder im Realen zu verorten.
Sehr geehrte Damen und Herren, an den Werken von Andreas Theurer fasziniert mich die Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren. Aus dem rhythmischen Zusammenspiel von Licht und Schatten, Fläche und Raum, Ruhe und Bewegung ergeben sich vieldeutige Bildwelten, die nicht nur das materiell Greifbare, sondern auch das Unbegreifbare, das Abwesende, erkennbar und empfindbar machen.
Antje Lechleitner
studierte Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie sowie Klassische Archäologie in Würzburg und Freiburg. Sie ist als Kuratorin, Kunstjournalistin und Dozentin in Freiburg im Breisgau tätig.