Fritz Jacobi . 2012
Körper zwischen Statuarik und Anschauung
Zum Schaffen von Andreas Theurer seit Anfang der 1990er Jahre
Im Jahre 2001 begann Andreas Theurer mit der Gestaltung einer Werkreihe von überlebensgroßen Holzfigurationen, die zu den Hauptwerken seines Schaffens in der jüngeren Vergangenheit gehören. Stelenartig aufragende menschliche Körper vermitteln in Arbeiten wie „Cassandra“, 2001/2003, „Geflecht“, 2001/2003, „Verflochten“, 2001/2004, „Requiem“, 2001/2004, „Thanatos“, 2003/2004, oder der Bündelung mehrerer Gestalten in „Entwurzelt“, 2004, eine starke, blockartig verdichtete skulpturale Kraft. Obwohl sie von einer beinahe expressiven Formensprache geprägt erscheinen, erinnern sie doch eher an elementare Gefäßformationen, die – sorgsam ineinander gefugt – die Wirkung tektonisierter Körpergebilde annehmen. In diesen aus Kiefernholz gearbeiteten Figurationen, die zusätzlich noch mit meist dunkler Beize und Farbe behandelt wurden, dominiert ein straff verspanntes Rhythmusprinzip. Nicht nur die zur Eigenständigkeit neigenden kubischen Teilpartien, sondern auch das Konturen betonende Netzwerk geometrisierender Lineamente gliedern die Skulpturen in flächige Segmente, lassen zugleich aber den Eindruck entstehen, als ob hier gratige Felsmassive aus dem Boden erwachsen.
Diese Menschenzeichen muten an wie verschattete Wesen, deren lebendiger Entfaltungsdrang in einer gleichsam erstarrten Ummantelung fest eingebunden wird. Die Gestaltgefüge von Andreas Theurer stehen in dem grundlegenden Konflikt zwischen organischer Körperbildung und abstrahierter Formenwelt. Das erkennbar Leibhafte erfährt durch die freien Strukturen wie schräge Linienverläufe, verkantete Vorsprünge oder scharfe Durchbrüche eine spürbare Verfremdung, die deutlich auf eine ganz bestimmte gestalterische Intention verweist: die Synthese von plastischen und bildnerischen Wirkungsformen.
„Ich kann das Außen wie das Innere zeichnen!“, bekannte Andreas Theurer jüngst bei einem Atelierbesuch und formulierte damit etwas zugespitzt ein Credo, das ihn nunmehr seit über zwei Jahrzehnten mehr und mehr beschäftigt hat. Schon um 1991/1992 tendierten seine Skulpturen zu einer zunehmend flächenhaften Außenwandung in streng gefassten Kuben oder sie verwandelten sich mitunter sogar in breit gezogene Körper-Bilder, die mit einer deutlichen Schmälerung des realen Volumens einhergingen und stattdessen den optischen Eindruck von räumlicher Tiefe suggerierten. Schon damals zeichnete sich eine Entwicklung ab, welche in der Folgezeit eine immer stärkere Bedeutung erlangen sollte: Im Verhältnis von Körper und Raum suchte Theurer eine Gestaltungsform, in der das Plastische einerseits als reale Gegebenheit mit all ihren körperlich-haptischen Eigenschaften zum Tragen kommt, andererseits aber auch als visuelle Erscheinungsform des Dreidimensionalen wahrgenommen wird. Die nach außen drängende Kraft des Skulpturalen sollte sich mit der Intensität des Augen-Blickes verbinden – sehr entfernt mit der Reliefgestaltung verwandt, doch letztlich auf eine ganz eigene Ausprägung plastischer Auffassung gerichtet.
Es geht dem Bildhauer und Objektkünstler Andreas Theurer im übertragenen Sinne um eine „Entschwerung“ der Skulptur und gleichzeitig um den Hinzugewinn einer offeneren Betrachtungsart, gleichsam um eine neue Mehrschichtigkeit plastischen Begreifens. Es ist ihm in vielen seiner Werke gelungen, diese Ambivalenz des Realen in künstlerischer Form aufzubereiten, indem seine Skulpturen gewissermaßen aus ihrer Verankerung gelöst und in übergreifende Zusammenhänge gestellt werden. Die Gewichtigkeit des Körperlichen und die Lesbarkeit der Fläche, reale Raumverdrängung und illusionistisches Bild sowie figurale Anmutung und zeichenhafte Verknappung verschwistern sich in seinen Arbeiten zu einer Anschauungsform, welche das plastische Gegenüber anders reflektieren lässt. Aus der Vielzahl seiner oft auch experimentell angelegten Arbeiten seien hier nur drei Werkgruppen, die über Jahre hinweg zu immer wieder modifizierten Fassungen einer Grundidee geführt haben, herausgegriffen und etwas näher behandelt. Schon seit 1991 begann für Andreas Theurer die schräge Form in verkanteten Würfelformationen eine wirklich prägende Rolle zu spielen. Am Anfang entstand die „Kleine Illusion“, 1991, der die „Große Illusion“, 1992, „Zeit-Raum II“, 1993/2000, „Platons Würfel“, 1995, die Reihe kleiner Torgebilde wie „Potemkinsches Haus“, „Für Paul Virilio“ oder „Fremder Horizont“ und „Labyrinth“, 2000, folgten. Auch die Reihen der „Ruine“-Tafeln, 2002/2004, und der „Zeit-Faltungen“, 2009/2011, gehören in diesen Werkverbund, denn in all diesen über die Fläche ausgebreiteten Körperzeichen stoßen richtige perspektivische Ansichten mit einer fehlenden plastischen Entsprechung oder einem unvermittelten horizontalen Beschnitt direkt aufeinander. Irritiert versucht der Betrachter, der von der spannungsvollen Klarheit der Formbildung angezogen wird, die jeweilige Anschauung zu vollenden, muss sich letztlich aber darauf einstellen, den beiden Wahrnehmungsformen ihre Geltung zu belassen. Man denkt unwillkürlich an optische Täuschungen und wird sich der Relativität des Sehens bewusst.
Einen anderen Weg der Überschneidung unterschiedlicher Wahrnehmungen wählt Theurer, wenn er die Möglichkeiten flacher Metallplatten im Hinblick auf ihre räumlichen Entfaltungen auslotet. 2007 ergab sich für ihn im Rahmen eines Auftrages für den öffentlichen Raum die Gelegenheit, mit großen Stahlblechen zu arbeiten. Das „Offene Haus“, das in der Nähe des Berliner Nollendorfplatzes Aufstellung fand, vereint die Darstellung einer Figur, die zur Hälfte als positive Umrissfläche, zur anderen Hälfte als ausgeschnittene Negativfläche gestaltet wurde, mit der dachartig abgeschlossenen Form eines Gehäuses, das ebenfalls mit einem Tür ähnlichen Ausschnitt versehen ist. In weiteren verwandten Arbeiten wie „Grenzland“, „Annexion“, beide 2008, und „Chronos“, 2010, variiert Theurer diese ineinandergreifende Dualität von Figur- und Wandfläche, während er in „Schwerelos“ und „Freiraum“, beide 2008, den Ausklappungsmöglichkeiten der reinen Geometrie des Quadrats in die räumliche Gestalt hinein nachspürt. Die wechselseitige Beziehung von fester und offenen Form beschäftigt hier das betrachtende Auge, animiert zum gleichzeitigen Sich-Gegenüberstellen und lässt diesen permanenten Schwebezustand zwischen dem Durchgängigen und dem Unzugänglichen fühlbar werden, der uns eigentlich täglich in mannigfaltiger Art und Weise begegnet.
Wie eine Vorbereitung auf diese Werkgruppe kann das 2003 in Holz gearbeitete, lebensgroße „Himmelstor“ gelten, das innerhalb einer vertikal errichteten Wand den Ausschnitt einer menschlichen Figur – zum Körperzeichen verknappt – vergegenwärtigt und einer plastisch ausgeformten liegenden Figur gegenüberstellt. Dieser Bezug von aktivem Erscheinungsbild und passivem Realkörper lässt eine sehr intensive Metaphorik von Sein und Nicht-Sein entstehen, ohne wirklich nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst werden zu können.
Die Durchdringung von Figur und Gegenstand spielt im Schaffen von Andreas Theurer immer wieder eine wesentliche Rolle, aber auch die pure Objektgestaltung pendelt sich häufig auf die Existenzproblematik des organischen Körpers ein. Arbeiten wie „Thron“, 2000/2004, „Labil“, 2005, „Schritt für Schritt“, 2007, oder die unregelmäßig geformten Wandelemente „Raum beflügelt“, „Raumparadox“, beide 2009, und „Arche“, 2009/2011, veranschaulichen eine merkwürdige Instabilität, die sich als unwägbare, doch gleichermaßen rustikale Spurenzeichen zwischen Werden und Vergehen erweist und damit impulsartig die wechselnden Positionen eines bewegten Seins symbolisiert.
Selbst sein großes, Wellen artig ausgespanntes „Denkmal für Johann Georg August Wirth“ in Hof, 1998 in einer ersten und 2012 in einer leicht veränderten Fassung eingeweiht, trägt Züge einer solch immerwährenden Veränderung, welche uns in der Natur, in der Gesellschaft oder auch im eigenen Sein stets begleitet. Diese begehbare Bodenskulptur sucht die Erdnähe und wölbt sich doch in den Raum hinein, avanciert zum Objekt der Anschauung und lässt sich zugleich in einen Ort von Handlung verwandeln – ein Spannungsverhältnis mithin, das den Werken von Andreas Theurer zumeist in äußerst anregender Form innewohnt. Cetin Güzelhan hat diese Intentionen des Künstlers einmal in sehr treffenden Worten so zusammengefasst: „Die Dialektik in Theurers Arbeit ist offensichtlich. Bei aller formalen Strenge, Festigkeit und Statuarik führen uns seine Skulpturen die Schieflage der Welt vor Augen. Denn wenn die Sicht der Dinge den eigenen Horizont überwindet und verschiedene Perspektiven gleichzeitig gelten, dann schwankt die Welt, dann stürzen die Linien, dann spüren wir die Labilität unseres Daseins – und sehen die Welt mit Theurers Augen.“
Katalog „Fremder Horizont – Andreas Theurer“, Damm und Lindlar-Verlag, Berlin 2012
Dr. Fritz Jacobi
(* 23. April 1944 in Dresden)
ist Kunsthistoriker in Berlin, Kustos an der Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen zu Berlin a. D.