Fritz Jacobi . 1992
Körperflächen als Raumzeichen
Zu neueren Skulpturen von Andreas Theurer
Es ist interessant zu sehen, wie sich in den letzten Jahren der bildhauerische Ausdruck von Andreas Theurer gewandelt hat. Im Zuge dieses Wandlungsprozesses, den man fast als Einschnitt in seiner künstlerischen Entwicklung bezeichnen kann, ist wohl die prinzipielle Bindung an die menschliche Figur nicht aufgegeben worden – auch wenn die Abstraktion zunehmend in die Gestaltfindung hineindrängt -, aber die Haltung zu ihr hat doch eine wesentliche Veränderung erfahren.
Wenn man diesen Vorgang in wenigen Worten zusammenfasst, so lässt sich sagen: Andreas Theurer ist von einer körperbetonten, ganz auf das leibliche Volumen gerichteten Form zu einer statuarischen, stärker in die Fläche gespannten Körperlichkeit gelangt, bei der eine spröde, meist aufgerissene und nervige Außenhaut die glatte, gerundete und den plastischen Kern überziehende Oberfläche der früheren Arbeiten abgelöst hat. Bis in die späten achtziger Jahre hinein, bis zu seinem Wechsel von Braunschweig nach Berlin, dominierte in seinem Schaffen die massive, schwere und häufig von einer inneren Dramatik erfüllte Figur, zu der Theurer nicht zuletzt unter dem Einfluss seines Stuttgarter Lehrers Alfred Hrdlicka gefunden hatte und die er in einer durchaus verknappenden Form kubisch zusammenzog, um die enorme innere Spannung eines Körpers nach außen sichtbar zu machen. Die geballte Kraft des Physischen drückt sich in diesen meist gedrungenen Leibern dem Betrachter entgegen; eine zuweilen fast barocke Bewegungsenergie zeugt von den vitalen Intentionen des jungen Künstlers. Wenngleich hier Anregungen von Bildhauern wie Giuliano Vangi, Waldemar Grzimek oder Jürgen Weber eingeflossen sind, so ist das Streben von Theurer nach einer eigenen, der blockhaften Archaik angenäherten oder auch einer grazilen Formenrealistik zugewandten Ausdrucksform deutlich zu spüren.
Man gewinnt aufgrund der Arbeiten aus den letzten Jahren den Eindruck, dass Andreas Theurer zunehmend zu sich selbst gefunden hat und nun im Begriff ist, die ihm gemäße künstlerische Sprache konsequent auszuformen und zu entwickeln. Die neuen Skulpturen haben eine Frische und Unmittelbarkeit, die in diesem Maße bisher nicht dagewesen ist. Die feste, zuweilen einzwängende Hülle ist abgeworfen worden; seine Gestaltbildungen zeigen sich nun in einer narbigen, gebrochenen und eigenwillig rhythmisierten Form. Die Spuren des Werdens bleiben sichtbar und deuten damit zugleich auf die Vergänglichkeit hin, die sie zu eigenartigen Markierungen des Vorübergehenden macht. Da, wo vormals die Eindeutigkeit des Körperlichen den Raum verdrängte, stehen nun schmalgliedrige, blattartig ausgebreitete Formen, die den Raum aufnehmen oder in ihn hineinstoßen, sich mit ihm verbinden. Die fragile Gefährdung, durch torsierte und fragmentarisch belassene Formstrukturen auf den Plan gerufen, prägt nun die Figurationen von Andreas Theurer.
Seine Plastiken und Skulpturen – vor allem der Sandstein spielt jetzt eine beherrschende Rolle bei den von ihm verwendeten Materialien – sind Gestaltzeichen geworden, die noch auf den menschlichen Körper hindeuten, ihn zugleich aber „verschleiern“, aufbrechen, segmentieren oder ihn in abstrahierte Formgefüge einbinden. Die Körper wirken zum Teil wie entmaterialisiert, wie schattenhafte Verschwebungen, die sich einem stabilen Standort zu entziehen und wie schemenhafte Figurinen vorüberzugleiten scheinen. Ihre Deutbarkeit erwächst vor allem aus dem Kontur, der die oft flache und nach den Seiten hin ausgreifenden Formzonen hält und gratartig begrenzt. Die Binnenformen selbst entwickeln sich wie karge Landschaften, die – von Kerbungen durchzogen – behutsam gesetzte Erhöhungen und Vertiefungen in sich vereinen. Felsartige Verkrustungen wechseln mit harten Einschnitten; ausgespannte, fast gleichbleibende Flächenpartien kontrastieren mit blockhaften Durchbrüchen oder Vorstößen, häufig begleitet von farbig aufgetragenen Liniengerüsten, die das Netz der Verzweigungen unmerklich auf anderer Ebene weiterführen.
Die große Form des Blockes, vielfach in die aufstrebende Form der Stele hineingeführt, und die empfindsam geschichtete Struktur der „Außenwandung“ ergänzen sich zu einer stillen, fast versonnenen Erscheinung, die zugleich eine eigenartig bewegte, gleichsam vibrierende Ausstrahlung vermittelt. Diesen Skulpturen ist ein Moment der Meditation eigen. Die Kräfte werden wohl gesammelt, gebündelt, gerichtet, aber andererseits wird kaum ein fester Anhaltspunkt gewährt und immer wieder die Ganzheitlichkeit des Formgefüges vor Augen geführt. Nur selten ist die Mitte, das Zentrum betont: vielmehr verteilen sich die plastischen Ströme feld- und gewächsartig über die oft reliefhaft ausgedehnten Körperflächen.
So liegt es nahe, dass für Andreas Theurer das Wechselspiel der Formen eine wesentliche Bedeutung erhält. Am deutlichsten wird diese Beziehung in den Zweifigurengruppen wie dem „Dialog“, einer feinfühlig gestalteten Paarung zweier fast lebensgroßer Körper, bei der die Gegenüberstellung der beiden aufgerichteten Figuren zugleich ein Nebeneinanderstehen ist, was zu einer vergleichenden Betrachtung auffordert und den Blick hin- und herwandern lässt. Aber auch die Einzelfiguren tragen dieses potentielle Hinüber- und Herübergleiten des Blickes in sich. Die gegensätzlichen Betonungen sind meist in die Seiten hineinverlagert und bilden von daher das Spannungsgerüst, das den Betrachtungswechsel animiert. Bei Arbeiten wie dem „Tanz“, dem „Magischen Quadrat“, der „Kleinen Illusion“ oder der „Tisch-Dame“ ist das deutlich zu beobachten, aber auch Skulpturen wie die sorgsam aufbereitete „Balance“ – auch hier deutet der Titel schon auf eine solche Wertigkeit hin – und der größte Teil der neueren Werke sind in eine solche Polarisierung eingebunden.
Andreas Theurer hat in der herben Berliner Atmosphäre und sicherlich auch durch Anregungen seiner Bildhauerkollegin Azade Köker zu einer eigenen sensiblen Gestaltung gefunden, in der sich das Moment einer archaischen Zurückhaltung mit einer wohltuenden Klarheit vereint. Man fühlt hier wirklich empfundene Reibungen am Sinn und Sein des Lebens, Begegnungen vor allem mit der menschlichen Existenz in ihrer Verflechtung mit ihrem Umraum und dessen Dimensionen. Es ist ein sehr intensives Nachspüren, das sich in seinem Werk vollzieht. Das Ertasten des Leiblichen, das bis zu einem gewissen Grade aus seiner eigentlichen Mitte herausgenommen, in ein unaufhaltsames Wechselspiel der Kräfte hineingestellt wurde und sich mehr und mehr in einem alles durchdringenden Rhythmus von Zeit zu behaupten hat, ist bei Andreas Theurer zur hauptsächlichen Gestaltungsintuition geworden. Er befindet sich auf dem Wege; seine in den letzten Jahren entstandenen Werk-Zeugnisse sind von einer nachhaltig berührenden Wirkungskraft. Verharrung und Bewegung vereinen sich in Figurationen, die Aufbruch und Ausklang gleichermaßen in sich tragen.
Katalog „Theurer“, Bildhauergalerie Messer-Ladwig, Berlin, 1992
Dr. Fritz Jacobi
(* 23. April 1944 in Dresden)
ist Kunsthistoriker in Berlin, Kustos an der Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen zu Berlin a. D.