Jochen Boberg . 2012
Zerbrechliches Kontinuum – Das Spiel mit Raum und Zeit
„Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte.
… als ob die Menschen alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, manchmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen.
(Ich würde) … die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstern glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz einnehmen in der ZEIT.“
(Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, letzter Absatz)
Alle Kunst – von Anfang an und unabhängig von Benennungen – ist Setzung im gelebten Raum, in durchlebter Zeit. Und wir haben es mit großer – lieber würde ich sagen „wahrer“ – Kunst zu tun, wenn uns das von Proust so eigentümlich beschriebene Verhältnis existenzbedingender Dimensionen durch sie ins Bewusstsein geriete, auf den Leib rückte und damit im ursprünglichen Sinn zum „Bild“ würde.
Einige Namen, die Theurer seinen Objekten gibt: „Raum-Zeit“, „Relativer Raum“, „Platons Würfel“ – also das Objekt, das doch nur sein eigener Schatten ist, „Labyrinth“ – unentrinnbar, „Große Illusion“ – der gekippte Menhir, der Raumbrocken mit dem noch schwerer belasteten Sisyphos, „ Zeitfaltungen I – III“ – mit Sprache (Wissen) versetzte Räume, die in die Zeit kippen, die geklappten „Freiräume“, dünnwandig und zeitdurchlässig, früher schon das „Raumparadox“, nicht zwei Seiten einer Münze, sondern die Janusköpfigkeit der Erfahrung, und dann das „Requiem“, der Mensch, der aus der Zeit geht, im Raum den Schatten hinterlässt, den der noch vorhandene Körper wirft.
Das sind nicht geistvolle Titel. Das ist die Wahrheit, also die Kunst des Andreas Theurer, wie ich meine: von Anfang an. Die frühen Figuren nehmen mit aller Macht den Raum ein, der ihnen gegeben ist; dann die Figuren, die mit schwerer Last sie selbst sein müssen: jeweils Portraits der inneren Befindlichkeit des Menschen. Selbst da, wo dann die menschliche Figur scheinbar fehlt, tritt an ihre Stelle die Sprache – wie beim Denkmal, oder der behauste Ort, an dem die Skulptur ihren Platz findet.
Natürlich wandelt sich bei Andreas Theurer mit der gelebten Zeit der Blick auf die Welt, ändern sich auch die Materialien, mit denen er das ausdrückt. Heute kennen wir das Innerste und Äußerste der Welt, die Relativität von Raum und Zeit, die N-Dimensionalität des Alls, die Strings, die Wurm- und schwarzen Löcher im All. Da wäre es absonderlich, wenn ein in der Zeit lebender Künstler das nicht wahrnähme. Man kann es (wie ich finde: abschätzig) Entwicklung nennen. Ich sehe darin mehr das starke, bewusste künstlerische Individuum, dem es ein Anliegen ist, uns auf dem Weg mitzunehmen. Das ist ein Privileg der Kunst, des Künstlers.
Und noch etwas: Andreas Theurer arbeitet mit unterschiedlichen Materialien und in unterschiedlichsten Dimensionen: Stein, Holz, Metall, sogar mit Draht und Pappen. Seine Werke: manchmal winzig klein und dann wieder geradezu monumental. Ein Zeichen von Beliebigkeit? Nein, definitiv nein, denn neben aller inhaltlichen Kraft versteht er sein Handwerk. Er weiß um die den Materialien innewohnende Kraft, die „Materiallatenz, eine unabdingbare Voraussetzung für gute Kunst. Das Zerbrechliche sagt Zerbrechliches, das Schwere Schweres, das Labile Labiles. Die Kunst, zumal die bildende, müsse immer wieder durch das Material hindurch; erst dann könne sie wirken, wirklich sein, zutreffen. Das weiß Andreas Theurer und handelt damit meisterlich. Hier ist – weil so oft vergessen – Anlass, über Qualität zu sprechen, die das Kunsturteil bestimmen sollte. Nicht die Mode, nicht der Markt, nicht das Geschmäcklerische entscheiden am Ende über den Wert der Kunst, sondern das gut gemachte und Bedeutung tragende Werk. Genau an diesem Ort ist Andreas Theurer.
Wie als Beweis dafür taucht dann im Werk die Skulptur „Goldstaub“ auf (Seite 54-55). Eine monumentale Figur, wie aus der Zeit genommen, den Raum beherrschend und vom Gold erleuchtet. Im Gegenüber mit diesem Bild bedarf es keiner divinatorischen Interpretation. Man muss sich auf den Dialog einlassen und wird eine eigene Welt erfahren.
Katalog „Fremder Horizont – Andreas Theurer“, Damm und Lindlar-Verlag, Berlin 2012
Dr. Jochen Boberg
(* 20.06.41 in Wesel am Niederrhein)
ist Kunsthistoriker und Museumsdirektor, war zuletzt Direktor der Museumsdienste Berlin und verfasste zahlreiche Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte.