Dorothee Bauerle-Willert . 2016
zur Eröffnung der Ausstellung „Marion Eichmann, Karsten Kusch, Andreas Theurer“ im Gehag Forum der Deutsche Wohnen AG am 22.06.2016 (Auszug)
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich im Gehag Forum/Deutsche Wohnen – und wohnen ist ja ein komplexer Begriff. Mit Peter Sloterdijk erinnern gerade die Künstler als Tiefenbewohner der Welt an die Frage, wie das Welthaus überhaupt zu bewohnen sei. Es sind die ,Anderswohnenden‘ und ihr sein in der Welt bedeutet immer auch Mitarbeit an den mannigfachen Formen der Welt, am Fundus der Kultur. Kunstwerke erschließen den Raum, gestalten ihn zum Ort, konstituieren ihn in dem steten Wechselspiel von Ausräumen und Einräumen, von Zulassen und Einlassen – und gerade in der Plastik, der Skulptur ist das, „was zuerst und vor allem Einzelnen wahrgenommen wird, in gewisser Weise der Raum selbst.“
Aber Kunst ist auch Material, denkt das Material in Verbindung mit möglichen anderen Materialien und dem Raum selbst. Raum ist Ordnung, Kontext und Ortung. In einem zentrifugalen Impuls verbindet sich die Kunst heute mit ihrer Umgebung. Kunst ist Bewegung. Standbein / Spielbein, der Kontrapost und das Dazwischen. Die Kunst ist räumlich, auch wenn sie nicht greifbar ist, und sie lebt von dem Verhältnis, das wir als Betrachter zu knüpfen in der Lage sind. Ihr Feld ist offen und weit. Die Kunst koaliert mit der Gegenwart und der Gesellschaft. Sie ist reale Präsenz und provoziert immer wieder neu gegenwärtiges Wahrnehmen und Erfassen.
Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Skulpturen von Andreas Theurer, die hier in dem fließenden, klar akzentuiertem Raum in diesem Gebäude aus den 36er Jahren des letzten Jahrhunderts versammelt sind und jeweils ein besonderes Verhältnis zwischen Raum und Fläche, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Zeichen erspielen und setzen. Die neueren Arbeiten hier sind aus Wellpappe und präzise aus diesem eher nonchalanten Material heraus gedacht. Abstrakte, architektonische Formen, aus geometrischen Grundelementen, wie dem Würfel entwickelt setzen sie ein vielfaltiges Wahrnehmungsspiel in Gang, öffnen sich zum Raum, der nun kein jenseitiger mehr ist, gehen um mit dem zerbrechlichen Kontinuum, in dem wir leben, das unser Leben ist – und seiner Vielansichtigkeit. Die Körper und Formen irritieren, unterminieren Muster und Sehgewohnheit: Auf den ersten Blick erscheinen sie von anderer Materialität, als stabile Eisenskulpturen – ein Material-Mimikry, das in der Skulptur über Material denkt. In der malerischen Behandlung der Flächen, in den Lasuren und konsolidierenden Schichtungen öffnet sich die Struktur zu einem Dialog zwischen Dekonstruktion des Festgefugten und der Materialität, zwischen Licht und Schatten, zwischen Zeit und Ewigkeit. Ganz selbstverständlich sind es Denkfiguren der Öffnung auf eine andere Sicht der Welt, einer Welt die ja zunehmend ins Wanken gerät, flüchtig und flüssig geworden ist.
Auch die fast archetypisch anmutenden Figuren, fragende Wächter, diskutieren basale skulpturale Fragen, und dies fast im Paradox: Gerade in der subversiven Flächigkeit, in und durch ihre Silhouette erreichen die Stelen eine räumliche Präsenz, eine ganz eigene Weise der Anwesenheit im Raum. Als ob sie ihren materialen Kern verlassen wollten, stehen diese Menschenzeichen, transzendieren und transponieren ihre Volumina ins Imaginäre. Damit ist auch ein grundlegender Konflikt des Skulpturalen angesprochen: Die Figuren changieren zwischen organischer Körperbildung und kubischer Abstraktion, zwischen Leiblichkeit und Bild, zwischen der graphischen Bezeichnung zum Körperbild, zwischen der kondensierten Kraft und der Intensität des Augenblicks, zwischen dem Traum der Malerei und der Wirklichkeit der Plastik, um eine Unterscheidung von Herder aufzunehmen.
In den Skulpturen von Andreas Theurer und dem, was sich in ihrem Zwischenraum ereignet, geht es also weniger um den Zustand als um einen Prozess, der die uneinholbare Prozessualität des Sehens, des Wahrnehmens einbegreift, der sich der Fixierung und Kontrolle entzieht. Dabei ist der Raum Teil und Auslöser der Entwürfe, die die Welt nicht als unabhängiges Bild zeigen, sondern in ein Feld von Möglichkeiten verwandeln.
Dr. Dorothée Bauerle-Willert
(* 9. Juli 1951 in Göppingen . † 15. Nov. 2022 in Montegrotto)
studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Lehrtätigkeit an der Universität Köln sowie den Kunsthochschulen Dresden und Halle. Seit 2010 Gast-Dramaturgin am Landestheater in Bregenz. Verfasserin zahlreicher Publikationen zur zeitgenössischen Kunst.